1. Nov. 2021 · 
Inneres

Festakt zum 75. Geburtstag: Kermani hält flammende Rede

Die niedersächsische Landesregierung hat am Montag auf beeindruckende Art und Weise den 75. Geburtstag des Landes gefeiert: Im Mittelpunkt eines Festaktes, zu dem 2000 Gäste im Kuppelsaal des hannoverschen Kongresszentrums zusammenkamen, stand ein Vortrag des Schriftstellers und Orientalisten Navid Kermani.

Am 1. November feierte das Land Niedersachsen seinen 75. Geburtstag. Rund 2000 Leute waren zum Festakt im Kuppelsaal geladen. | Foto: Audrey-Lynn Struck

Sein sehr tiefsinniger, engagierter Beitrag widmete sich weniger den Besonderheiten der niedersächsischen Geschichte, sondern einem Land, das aus seiner Sicht trotz einer aktuell eskalierenden Krise längst wieder an den Rand der politischen Aufmerksamkeit gerückt ist – Afghanistan. „Afghanistan wird wieder vergessen, ist es praktisch schon jetzt, zwei Monate nach der Rückkehr unserer Soldaten.“ Die dort lebenden Menschen müssten jetzt damit zurechtkommen, dass ihr Land auf den Stand von vor 20 Jahren zurückgeworfen worden ist. Sie erlebten Tyrannei, religiösen Extremismus, Frauenfeindlichkeit, Verachtung von Menschenrechten, Kultur und Andersartigkeit. Nur fehle jetzt im Unterschied zur Lage im Jahr 2001 die Hoffnung auf Befreiung. Denn die Helfer hätten sich zurückgezogen.

Navid Kermani setzt Fokus seiner Rede auf Afghanistan

Die Rede hielt Navid Kermani. | Foto: Audrey-Lynn Struck

Kermani hielt einen flammenden Appell für militärische Einsätze aus humanitären Gründen. Der einst von Margot Käßmann geäußerte Satz, nichts sei gut in Afghanistan, habe damals so wenig wie heute gestimmt. Er sei eine Ohrfeige für alle Menschen gewesen, die sich in Afghanistan unerschrocken für die friedliche Entwicklung eingesetzt hatten. Der Schriftsteller zieht einen Bogen von der Gründung Niedersachsens vor 75 Jahren zur Gegenwart. Die Bildung Niedersachsens auf Befehl der britischen Besatzungsmacht sei „der phänomenale Erfolg einer militärischen Intervention“ gewesen. Die Lehre müsse sein, „dass eine faschistoide Ideologie gewaltsam bekämpft werden muss, soll sie sich nicht weiter ausbreiten“. Der militante Wahhabismus der Taliban sei nichts anderes als Faschismus, denn er fuße nicht auf jahrhundertealten Traditionen, sondern sei eine Schöpfung der Moderne. Kermani sagte, es gehe nicht um Afghanistan allein. So drohe ein neues Aufflammen von Gewalt und Terrorismus, wenn die Bundeswehr sich aus Mali vom dortigen Kampf gegen die Dschihadisten zurückziehe. In den kommenden Wochen müsse dazu eine Entscheidung fallen, und er sehe schon wieder, wie wenig das die deutsche Öffentlichkeit bewege. Dabei hänge daran die Frage, ob bei einem Rückzug die nächste Flüchtlingswelle in Gang gesetzt werde und ob Bombenanschläge dann von Mali aus geplant würden. Er bedaure aber, dass darüber in Deutschland gar nicht diskutiert werde, dass Internationales seinen Rang in der deutschen Politik verloren habe. „Außenminister, das war noch vor zehn, 20 Jahren das zweitwichtigste Amt im Staat, und heute ist es Heiko Maas.“ 

Vor dem Festakt fand in der Marktkirche ein ökumenischer Gottesdienst statt. | Foto: Audrey-Lynn Struck

Jugendsinfonieorchester Niedersachsen und Turnergruppe "Feuerwerk der Turnkunst" untermalen Festakt

In einem schwungvollen, teils heiteren und teils nachdenklich stimmenden Festakt hat Niedersachsen an seine Geschichte erinnert – mit Filmeinlagen über die Landschaft und die Leute, mit musikalischen Stücken von Beethoven und Mozart, dargeboten vom Jugendsinfonieorchester Niederachsen, mit sportlichen Einlagen einer Turnergruppe und mit Reden von Ministerpräsident Stephan Weil, der an die Vielfalt, Toleranz, Gelassenheit und Vernunft der Niedersachsen erinnerte, und von Landtagspräsidentin Gabriele Andretta, die ein Wesensmerkmal der Demokratie hervorhob: Die Besonderheit der Demokratie sei nichts Statisches oder ein für allemal Gegebenes – ihr Wert liege in ihrem Werden. Dies habe schon der frühere Kultusminister Adolf Grimme erkannt und gesagt. Der Kabarettist Dietmar Wischmeyer, bekannt als „Günther der Treckerfahrer“ rundete das Programm mit einer launigen Charakterisierung der Niedersachsen ab. Während der Rheinländer zuweilen Frohsinn verbreite und den Karneval brauche, hätten die Niedersachsen Humor – sie gönnten sich eben keine Auszeit vom Ernst des Lebens, sondern nähmen das Leben insgesamt nicht so schwer. Sie wünschten sich ein Zuhause, in dem sie die Tür hinter sich schließen und ihre Gemütlichkeit genießen könnten – ohne dass sie zu unnötiger Konversation genötigt würden.

Zum Festakt waren neben Ministerpräsident Stephan Weil und Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay auch Alt-Kanzler Gerhard Schröder und Alt-Bundespräsident Christian Wulff geladen. | Foto: Audrey-Lynn Struck
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #195.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail