
Vor einem Jahr wusste kaum jemand, was das Wort Streckbetrieb überhaupt bedeutet. Nachdem Deutschland aber immer tiefer in der Energiekrise versinkt, diskutiert mittlerweile die ganze Bundesrepublik über den befristeten Weiterbetrieb der letzten drei Kernkraftwerke, zu denen auch das Kernkraftwerk Emsland in Lingen zählt. In einer neuen NDR-Umfrage zur Zukunft der Atomenergie haben sich nur 20 Prozent der Niedersachsen dafür ausgesprochen, die Meiler wie geplant zum Jahresende abzuschalten. 42 Prozent wünschen sich einen Streckbetrieb, 35 Prozent sogar eine Laufzeitverlängerung. Aber ist es angesichts der langen Lieferzeiten für neue Brennstäbe nicht schon zu spät, sich darüber überhaupt Gedanken zu machen? Und macht ein Streckbetrieb überhaupt Sinn? Fragen und Antworten zur aktuellen Debatte:
Die letzten drei deutschen Atomkraftwerke sollen am 31. Dezember 2022 vom Netz gehen. Auf diesen Abschalttermin haben sich zumindest die AKW-Betreiber eingestellt und dementsprechend die Nutzungsdauer der Brennelemente optimiert. „Am 1. November geht das Kernkraftwerk Emsland in Lingen in den Streckbetrieb, weil die Brennstäbe nicht mehr genug Energie haben, um 100 Prozent Strom zu produzieren“, berichtet Umweltminister Olaf Lies. Damit läuft die Uhr für den Kraftwerkbetrieb unweigerlich ab, sofern nicht neue Brennstäbe eingesetzt werden. Laut der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) ist ein Streckbetrieb für mindestens 80 Tage realisierbar.
Die Experten der Preussenelektra GmbH aus Hannover, die das Kernkraftwerk Isar 2 betreibt, haben in einem Artikel für die September-Ausgabe des Kernkraftjournals „atw“ eine Auswertung bisheriger Streckbetriebe im Unternehmen vorgenommen und kommen zu folgendem Fazit: „Es bestand nie die Notwendigkeit, länger als 60 Tage Streckbetrieb zu fahren, aber die Druckwasserreaktoren können es. Praktisch haben sie sogar ein paar Mal fast 90 Tage erreicht. Theoretisch ginge noch länger.“ Auch das niedersächsische Umweltministerium geht davon aus, dass der Streckbetrieb im AKW Emsland bis Ende März/Anfang April möglich wäre.
Die Fachleute von Preussenelektra bezeichnen den Streckbetrieb als „business as usual“. „Die Anwendung des Streckbetriebs in den meisten Zyklen in über 35 Jahren führte praktisch zu keinen Problemen oder nachteiligen Auswirkungen auf das Anlagenverhalten“, heißt es. Der Streckbetrieb sei regelmäßig angewandt worden, um den Kernbrennstoff in Zeiten hoher Brennstoffpreise besser auszunutzen und um die Brennelementwechsel und Revisionsplanung flexibler zu gestalten.
Ein Selbstläufer ist der Streckbetrieb aber nicht. In dem Verfahren wird nämlich die Temperatur des Kühlmittels verringert und seine Dichte erhöht. Dadurch werden die Neutronen besser abgebremst, wodurch mehr Neutronen zur Spaltung zur Verfügung stehen als im Normalbetrieb. Damit keine Störfälle auftreten, muss dieser Vorgang technisch überwacht werden, was laut GRS aber nicht sehr problematisch ist: „Die Bedienmannschaft muss nur Regelungssollwerte dem Prozess anpassen und zwei Mal in 80 Tagen mehrere Grenzwerte verstellen.“ Die Ingenieure des Kraftwerksbetreibers betonen, dass dieses Verstellen von Grenzwerten schon seit vielen Jahren geübte Praxis sei.
Auf diese Frage gibt es widersprüchliche Antworten. „Eine Verlängerung der Laufzeiten der noch in Betrieb befindlichen drei Atomkraftwerke würde im Winter 2022/2023 keine zusätzlichen Strommengen bringen“, hieß es bereits in einem gemeinsamen Prüfbericht von Bundesumweltministerium und Bundeswirtschaftsministerium im März. Der Branchenverband Kernenergie in Deutschland (KernD) widersprach jedoch umgehend und schlug vor, gerade in Zeiten mit hoher Solar- und Windstromerzeugung gezielt nuklearen Brennstoff zu sparen – als Vorsorge für den Winter. Dazu ist es zwar nicht gekommen, die Autoren der jüngsten Preussenelektra-Studie sagen aber trotzdem: „Unabhängig vom Leistungsverlauf des eigentlichen Betriebszyklus, also unabhängig davon, ob Leistung in den Sommermonaten gedrosselt wurde, können im Streckbetrieb zusätzliche Strommengen erzeugt werden.“
Tatsächlich ist fraglich, wie die beiden Bundesministerien zu ihrer Einschätzung kommen, dass durch einen zusätzlichen Streckbetrieb kein Nettostrom gewonnen werden könnte. Denn am Ende eines zweimonatigen Streckbetriebs, so erläutern es die Fachleute von Preussenelektra, beträgt die Reaktorleistung immer noch über 50 Prozent. Das Kernkraftwerk Lingen würde mit halber Kraft immer noch 700 Megawatt Strom produzieren. Innerhalb eines Tages entspricht das einer Produktion von 16,8 Gigawattstunden, was dem Jahresverbrauch von etwa 5600 Haushalten decken würde. Die Experten rechnen vor, dass für jeden Tag im Streckbetrieb die Leistungsfähigkeit eines Kernkraftwerks um 0,3 bis 0,5 Prozent sinkt.
Dass das Abschalten der Kernkraftwerke zu einer Verteuerung des Stroms in Deutschland beiträgt, ist weitgehend unbestritten. Wie hoch dieser Effekt ist, kann allerdings niemand eindeutig sagen. „Würde ein Weiterbetrieb zur Preisstabilität beitragen? Auf keinen Fall!“, sagt Olaf Lies. Das Umweltministerium räumt zwar ein, dass weniger Kernkraftwerke dazu führen, dass nach dem Merit-Order-Prinzip mehr von dem teureren Strom aus Gaskraftwerken eingekauft werden muss. Das habe in der aktuellen Situation aber „jenseits eines psychologischen Effekts“ keine nennenswerten Auswirkungen auf die Preisbildung.
„Wenn die drei verbliebenen Kraftwerke am Netz bleiben, würde das stabilisierend und preisdämpfend wirken“, sagt dagegen der FDP-Bundesfraktionsvorsitzende Christian Dürr im Gespräch mit dem Rundblick und rechnet mit Einsparungen von mindestens 16 Milliarden Euro für die Stromkunden. Allerdings bezieht sich auch Dürr bei seiner Rechnung nicht nur auf den Streckbetrieb, sondern geht von einer Laufzeitverlängerung mindestens für die kommenden zwei Winter aus. Auch der Branchenverband Kerntechnik Deutschland (KernD) räumt ein, „dass ein reiner Streckbetrieb mit den in den Reaktoren vorhandenen Brennelementen über das Jahresende 2022 hinaus jetzt nur noch wenig Sinn ergibt“. Weiter heißt es: „Mit einem nur minimalen Weiterbetrieb ist auch keine dämpfende Wirkung auf den hohen Strompreis zu erwarten wie bei einem mittelfristigen Weiterbetrieb kostengünstiger, bestehender Kernkraftwerke.“
„Bei der derzeitigen Fragestellung, ob man mit Streckbetrieb eine mögliche Lieferverzögerung von Brennelementen überbrücken kann, ist die obige Frage mit ja zu beantworten“, stellen die Experten von Preussenelektra klar. Der Verband KernT fordert bei dieser Entscheidung allerdings zur Eile auf. „Damit die Beschaffung frischer Brennelemente bis zum kommenden Sommer 2023 klappen kann, müssten seitens der Politik nun umgehend Entscheidungen getroffen werden, die es erlauben, diesen Prozess in Gang zu setzen“, sagt Verbandssprecher Nicolas Wendler. Die Lieferzeiten für neue Brennstäbe sind hoch. „Neue Brennelemente müssen für jede Anlage individuell hergestellt werden. Die Beschaffung dauert nach unseren Erfahrungen in der Regel 12 bis 24 Monate“, sagt RWE-Sprecher Jan Peter Cirkel. Der Energiekonzern betreibt das Kraftwerk Emsland.
Wirtschaft, FDP und CDU haben zuletzt immer stärker auf eine Laufzeitverlängerung zumindest für zwei Jahre gedrängt. „Gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung auf einem 'Nein' zur befristeten Laufzeitverlängerung zu beharren, ist in der jetzigen Krise schlicht unverantwortlich“, kritisiert Niedersachsens CDU-Chef und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann. Sein Vorwurf: „Robert Habeck stellt die grüne Ideologie über das Wohl der Menschen in unserem Land.“
Der Bundeswirtschaftsminister wird von vielen aus der Union verdächtigt, dass er die Laufzeitverlängerung mutwillig verschleppt. Offiziell schließt Habecks Ministerium ein solches Szenario allerdings nicht aus, sollte der neue Stresstest für die Strom-Versorgungssicherheit dieses nahelegen. Die Ergebnisse des Stresstests lassen allerdings weiterhin auf sich warten. Auch der niedersächsischen Landesregierung ist kein Termin für die Veröffentlichung bekannt. Der Energieminister ist sich jetzt schon sicher, dass eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke aus Gründen der Versorgungssicherheit nicht erforderlich ist. „Aus allen Daten, die wir haben, geht hervor, dass das nicht notwendig ist. Was die Systemstabilität betrifft, muss man den Stresstest abwarten“, sagt Lies. Letztlich müsse aber allein der Bund über eine Laufzeitverlängerung entscheiden und das Atomgesetz entsprechend ändern.