30. Mai 2018 · 
Bildung

Eschede – wie der Name eines Ortes sich in die Geschichte Niedersachsens eingraviert hat

Das Bahnunglück von Eschede, das sich am kommenden Sonntag zum 20. Mal jährt, löst bei vielen Menschen, die direkt oder auch nur mittelbar damit zu tun hatten, immer noch große Bedrückung aus. Denn es sind mehrere Umstände, die dieses Ereignis auch in der Rückschau als besonders grausam erscheinen lassen. Da waren 287 Menschen im Zug unterwegs – von München in Richtung Hamburg. Ein alltäglicher Vorgang in Deutschland, scheinbar völlig normal und geregelt. Der ICE donnerte mit 200 Stundenkilometern über die Gleise. Doch dann brach ein Radreifen, der Zug entgleiste, prallte gegen eine Brücke bei Eschede und richtete die schlimmste Bahnkatastrophe in der Bundesrepublik an. 101 Menschen starben, 88 wurden schwer verletzt, 106 erlitten nur leichte äußerliche Verletzungen. Ein Vielfaches dieser Zahl sind Menschen, die als Angehörige, Helfer oder Zeugen des Ereignisses über viele Jahre mit ihren schlimmen Erinnerungen zu kämpfen hatten und noch haben. Darunter sind auch die, die noch „davongekommen waren“, weil sie zunächst nur leicht verletzt wurden.

Ein Schock aus heiterem Himmel

Weil der Zug mit Spitzengeschwindigkeit auf ein festes Hindernis stieß, waren die meisten Todesopfer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Den Rettungskräften boten sich unvergessliche Bilder, wie aus einem Horrorfilm. Viele Menschen, die hier im Einsatz waren, mussten noch viele Jahre später betreut werden, weil sie die Eindrücke nicht loswerden oder verarbeiten konnten. Das Zugunglück von Eschede war ein Schock für die Gesellschaft, weil es wie aus heiterem Himmel kam – die Menschen waren wie hunderttausende täglich im Berufsverkehr unterwegs, ganz im Vertrauen auf die Funktionsfähigkeit einer Technik, die mit Hochgeschwindigkeit die Menschen befördern kann. Dann bricht en Radreifen, entgleist ein Zug – und ganz plötzlich wird eine ganz profane Bahnstrecke zum Ort massenhaften Sterbens und Leidens. Mit den vielen Menschen starb auch das grenzenlose Vertrauen in die Technik. Damals spielte sich etwas ab, das immer wieder bei derartigen Katastrophen zu beobachten ist: Es braucht seine Zeit, bis sich das Ausmaß bei den Menschen bewusst macht. Als am Mittwoch, 3. Juni 1998, um 11.08 Uhr der erste Rettungswagen der Feuerwehr am Ort war, neun Minuten nach dem Unglück, war den Einsatzführern schon klar, dass etwas ganz Schlimmes passiert sein musste. Aber es dauerte noch einige Zeit, bis die Helfer den Überblick hatten und immer mehr Verstärkung anfordern mussten.

Symbol für Tod und Trauer

In den Medien aber, über die Nachrichtenticker der Agenturen, setzte sich die Gewissheit über das Grauen noch langsamer durch. Anfangs war von Zugunglück die Rede, noch nicht von Opfern. Nach und nach wurden die Meldungen schlimmer, die Bestürzung größer – und die Hektik in den Redaktionen der Medien, die darüber berichten mussten, ebenso. Vielleicht liegt es auch an einem Abwehrmechanismus oder an einem in jedem Menschen innewohnenden Prinzip Hoffnung, dass man zunächst nicht wahrhaben will, wie dramatisch solche Unglücke verlaufen. Die Bilder, die dann am Abend bundesweit, ja international ausgestrahlt wurden, verschlimmerten das Geschehene noch einmal – das Wrack eines Zuges, das sich vor der zerstörten Brücke, die ihn aufhielt, auftürmte. Der ICE, Sinnbild von moderner Technik und Zuverlässigkeit, wird zum Symbol für Tod und Trauer. Rettungskräfte, die sich durch die Trümmer bewegen. Seelsorger, die vor Sterbenden und Schwerverletzten hocken. Zeugen, die über die Schreie und das Stöhnen der Sterbenden berichten und selbst nicht mehr können.
"Viele hatten das Bedürfnis, über ihr Erlebtes zu erzählen" - Michael Dölp, Vorsitzender Richter am Landgericht Lüneburg
Eschede blieb über viele Jahre eine große Leidensgeschichte, der Name des Ortes steht bis heute dafür. Die Bahn musste Fehler einräumen, das fiel ihr sichtlich schwer. Die Radreifen waren als moderne Erfindung angewandt worden, offenbar ohne sie vorher ausreichend erprobt und gewartet zu haben. Diese Hinweise wurden auch vor Gericht erörtert, Bahn-Mitarbeiter und Mitarbeiter des Radreifen-Herstellers wurden wegen fahrlässiger Tötung angeklagt; die Verhandlung endete 2003 nach dem 54. Verhandlungstag in einem Vergleich, da weitere Gutachten zur Ermittlung der Schuld der Angeklagten wohl Jahre in Anspruch genommen hätten, wie der Vorsitzende Richter am Landgericht Lüneburg, Michael Dölp, meinte. Heute erinnert sich Dölp, dass dieser Prozess in mehrfacher Hinsicht etwas ganz Außergewöhnliches war. „Wir haben den Nebenklägern, oft Zeugen des Unfalls oder Verletzte, ausreichend Zeit zum Berichten gegeben – denn viele hatten das Bedürfnis, über ihr Erlebtes zu erzählen.“ Die Entscheidung, das Verfahren gegen Geldauflage einzustellen, rechtfertigt Dölp heute noch. „Auch ein solcher Verlauf entspricht den rechtsstaatlichen Regeln“, sagt er gegen all jene, die den Prozess gern bis zu Ende geführt hätten – in der Erwartung, dann eindeutig Schuldige vorweisen zu können.

Bahn hatte es schwer, Image wieder aufzubessern

Eine förmliche Entschuldigung der Bahn hat es erst im Juni 2013 gegeben, 15 Jahre nach dem Unglück. Ihr Image als verlässliches, technisch einwandfreies und auf jeden Fall sicheres Beförderungsmittel hat die Bahn nach Eschede eingebüßt, und sie hatte es seither schwer, ihren Ruf wieder aufzubessern. Der Fall Eschede hat 1998 auch Niedersachsen gelähmt, obwohl es ein politisch spannendes Jahr war. Wenige Tage nach dem Unglück sollte der SPD-Landesparteitag in den Wahlkampfmodus zur Bundestagswahl starten – nach dem Landtagswahlsieg im März war Gerhard Schröder jetzt der Hoffnungsträger, und in der Landes-SPD lag ein Antrag vor, der eine Diskussion über die Frage lostreten sollte, ob Gerhard Glogowski tatsächlich der geeignete Nachfolger sein kann. Die Debatte wurde abgeblasen – denn aus Respekt vor den Opfern von Eschede ließ Gerhard Schröder den Parteitag kurzerhand ausfallen. Nur eine kleine Episode, die auch mit Eschede zu tun hat. (kw)
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #101.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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