13. Apr. 2023 · Kultur

„Es hängt auch damit zusammen, dass es die alte Pfadfinder-Ethik nicht mehr gibt“

Ende Januar gab es einen dramatischen Vorfall in Wunstorf, einer Stadt in der Region Hannover. Ein 14-jähriger Schüler wurde getötet, und dringend der Tat verdächtig ist ein Gleichaltriger aus dem Ort.

Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track führte viele Gespräche mit Lehrkräften und Schülern der IGS in Wunstorf. | Foto: Struck

Die beiden besuchten die von der evangelischen Kirche betriebene Integrierte Gesamtschule (IGS) in Wunstorf. Seither beschäftigt sich die Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track intensiv mit der Tat und dem, was sie ausgelöst hat. Sie hat viele Gespräche geführt – auch mit Lehrkräften, Kindern und Jugendlichen und Seelsorgern, die engen Kontakt zu Betroffenen hatten. Im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick schildert sie ihre Eindrücke. 

Rundblick: Frau Gäfgen-Track, wie schauen Sie heute auf diese Ereignisse, die nun rund zwei Monate zurückliegen? 

Gäfgen-Track: Ich bin nach wie vor entsetzt und fassungslos. Wie konnte das passieren? Wir wissen bis heute nicht viel und es kursieren ganz viele Behauptungen oder Darstellungen im Netz, deren Wahrheitsgehalt nicht belegt ist. 

Rundblick: Das Opfer soll gemobbt worden sein in der Schule… 

Gäfgen-Track: Nach allem, was wir in Erfahrung bringen konnten, hat der mutmaßliche Täter das Opfer in der Schule nicht gemobbt. Es ist sehr hart für die Schule, insbesondere für die Lehrkräfte, dass es immer wieder nicht nur an dieser Schule zu Fällen von Mobbing kommt - trotz vieler Anstrengungen, dieses konsequent zu unterbinden, und couragierter präventiver Arbeit. 

„Solche Taten lassen sich im Letzten nie rational erklären, eben weil sie unfassbar und unbegreiflich sind.“

Rundblick: Wie hat die Schule den Fall aufgearbeitet? 

Gäfgen-Track: Es gab und gibt viele Veranstaltungen – derzeit besonders an die Eltern gerichtet. Psychologen und Psychotherapeuten geben Hinweise, wie die Kinder das Geschehen verarbeiten können – und welche Hilfestellungen man ihnen geben kann. Es wird viel darüber gesprochen mit Lehrkräften, Mitarbeitenden, Schülern und Eltern, oft durch qualifizierte Personen, gerade auch Seelsorger. Es gab und gibt Andachten für die Seele und Gelegenheiten, Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Und nicht wenige Kinder und Jugendliche wünschten sich nach einiger Zeit ganz normalen Unterricht, Alltag eben. Doch passiert es immer wieder, dass die Erinnerungen den Alltag unterbrechen und neuer Gesprächsbedarf entsteht. In der Schule waren große Stellwände aufgebaut,  auf denen die Kinder und Jugendlichen ihre Gefühle aufschreiben und Abschiedsbotschaften an das Opfer richten konnten. Ich habe schnell gemerkt, dass es wichtig ist, den Kindern in der Zeit der Trauer etwas in die Hand zu geben – also haben wir mehr als 1000 kleine Osterkerzen aus der Marktkirche in Hannover organisiert. Viele Mitschüler haben diese zuhause angezündet, weil sie so besser mit dem Geschehenen und mit ihrer Angst umgehen konnten. 

Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track erzählt Klaus Wallbaum und Niklas Kleinwächter (l.) wie die IGS Wunstorf den Fall des getöteten 14-Jährigen aufarbeitet. | Foto: Struck

Rundblick: Wie konnte denn so etwas geschehen – trotz Präventionskonzepten, trotz Religionsunterricht, trotz der Tatsache, dass gerade in dieser Schule sehr viel Wert auf ein soziales Miteinander gelegt wurde?

Gäfgen-Track: Ich weiß es nicht, solche Taten lassen sich im Letzten nie rational erklären, eben weil sie unfassbar und unbegreiflich sind. Menschen bringen einander um, jeden Tag im privaten genauso wie im öffentlichen Raum. Femizide, Amokläufe, Folter, Krieg – die Bilder reißen nicht ab und auch Kinder und Jugendliche sehen sie und haben oft keine Chance, die Augen davor zu verschließen. Natürlich schießen auch mir Dinge durch den Kopf, welche Umstände Ausbrüche von Gewalt begünstigen könnten, aber ich habe keine Erklärung für diese Tat. Unsere Schulpsychologin an der IGS führt auch unabhängig von der Tat viele Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen. Da kommen viele unverarbeitete Erfahrungen hoch. Hier spielt sicherlich die für alle belastende Zeit der Pandemie eine Rolle. 

Rundblick: Inwiefern? 

Gäfgen-Track: Die Corona-Zeit hat bei vielen Menschen, auch vielen Jugendlichen zu einer Vereinzelung geführt, zu einer Abkapselung, denn über lange Zeit waren Begegnungen außerhalb der Kernfamilie nicht oder nur sehr eingeschränkt erlaubt. Die Sozialkontakte sind dadurch merklich zurückgegangen. Gerade den Umgang mit Aggressionen lernt man in Beziehungen und nicht zuletzt dadurch, dass Menschen hautnah erleben, was ihre Aggressionen auslösen. Es fehlt darüber hinaus heute in der Gesellschaft vielfach das, was ich „Pfadfinder-Ethik“ nennen möchte. Jeder weiß, was ich damit meine. Am alten „Paradebeispiel“ ist viel dran: Pfadfinder helfen alten Damen über die Straße – und wenn sie das tun, dann merken sie, wie schwer der alten Dame die Bewegung fällt, wie wichtig die Hilfestellung für sie ist. Wenn ich aber nicht mehr auf der Straße bin und es mir nicht wichtig ist, anderen Menschen in unterschiedlichen Alltagssituationen zu helfen, dann verliere ich auch an Empathie, die ich für andere Menschen empfinde. Das ist vielleicht ein Baustein einer Erklärung für die Fälle von Grausamkeit und Gewalt, die Jugendliche ausüben.



Rundblick: „Pfadfinder-Ethik“ klingt schon ziemlich antiquiert …

Gäfgen-Track: Das, was ich die „Pfadfinder-Ethik“ nenne, ist eine traditionelle Form christlicher Nächstenliebe. Diese Nächstenliebe war jahrhundertelang für viele so etwas wie der common sense ethischer Haltung, selbst wenn damit nicht radikal ernstgemacht oder Ausnahmen postuliert wurden. Aber die Ethik der Nächstenliebe hat unser Land geprägt, den christlichen Wertekonsens ebenso wie die Vorstellung von Solidarität, Nachbarschaftshilfe und Ehrenamt.  Die Nächstenliebe in dem Sinne, auch dem Fremden und Andersartigen gegenüber hilfsbereit und respektvoll aufzutreten, droht immer mehr verloren zu gehen, auch weil Menschen meinen, sie sich nicht mehr „leisten“ zu können oder zu wollen. 

Rundblick: Welche anderen möglichen Ursachen sehen Sie für eine stärkere Gewaltbereitschaft?

Gäfgen-Track: Es mag auch eine besondere Art von Gruppenbezug eine Rolle spielen: Die Kontakte in größeren Gruppen und zwischen verschiedenen Gruppen gehen zurück. Viele Menschen haben oft nur noch die eigene Familie, wenige Freunde als Bezugspunkt, sie grenzen sich ab von der Außenwelt. 

Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track führte viele Gespräche mit Lehrkräften und Schülern der IGS in Wunstorf. | Foto: Struck

Rundblick: Hängt es auch damit zusammen, dass es die Großfamilie nicht mehr gibt?

Gäfgen-Track: Ich glaube, es sind die fehlenden Sozialkontakte als solche. Früher wurden die Kinder von den Eltern nach draußen geschickt, da traf man Gleichaltrige, hat gespielt und sich aneinander gemessen. Man hat Ärger bekommen, wenn man zu weit gegangen ist. Wie ist es heute? Wo können Kinder, die den ganzen Tag am Computer sitzen, ihre Grenzen erkennen? Gemeinsam Spaß haben, miteinander etwas unternehmen und in der Gruppe Halt haben – das ist nicht nur für Kinder und Jugendliche gut.

Rundblick: Ist das auch ein Problem der mangelnden Erziehung?

Gäfgen-Track: Die Schule muss heute vieles auffangen, was in Elternhäusern versäumt wird. Viele Jugendliche können heute nicht richtig lesen und nicht schreiben – und die Fähigkeit, überhaupt etwas lernen zu können, müsste mehr gefördert werden. Die Schule soll alles gleichzeitig vermitteln – das Faktenwissen und die Kompetenzen, die Erziehung, die Demokratiebildung, die Inklusion und die ethische Verantwortung. Da kann ich gut verstehen, dass sich viele im System Schule überfordert sehen.

Rundblick: Die Schüler an der IGS in Wunstorf waren plötzlich mit dem Tod eines Mitschülers konfrontiert. Wie haben sie das verarbeitet?

„Der Umgang mit dem Tod ist deshalb für viele junge Menschen so schwierig, weil das Thema in vielen Familien ausgeklammert wird.“

Gäfgen-Track: Der Umgang mit dem Tod ist deshalb für viele junge Menschen so schwierig, weil das Thema in vielen Familien ausgeklammert wird – in der vermeintlichen Absicht, die Kinder zu schützen. Tatsächlich hilft man den Kindern mehr, wenn man sie an der Beerdigung eines Mitschülers teilnehmen lässt. Viele Schüler, die dabei waren, standen lange am Sarg und haben die Situation trotz mancher Verunsicherung ausgehalten und sind sichtlich bewegt bei der Trauerfeier innerlich mitgegangen. Das hat ihnen geholfen, mit dem Tod des Mitschülers umzugehen. Pfarrerinnen und Pfarrer predigen dann bewusst, dass es die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode gibt. Unsere Botschaft lautet: Das Leben ist wertvoll, Gott hält uns immer und in Ewigkeit lebendig – aber wir sind es, die uns das Leben auf dieser Erde gegenseitig zur Hölle machen können. Deshalb ist es so wichtig, das Leben, das eigene und das fremde, zu schützen. 

Rundblick: Noch ein Wort zur Rolle der Medien in dem Wunstorfer Fall. Wie haben Sie diese wahrgenommen? 

Gäfgen-Track: Manche Journalisten, die mir in dieser Situation begegnet sind, haben wenig Sinn für Differenzierungen gehabt und wollten früh eindeutige Urteile und Erklärungen transportieren. Das habe ich eher als unangenehm und nicht angemessen empfunden. In einigen Fällen gab es positive Ausnahmen – nämlich das Bemühen um eine zurückgenommene, auf Vorverurteilungen verzichtende und eher vorsichtige Einordnung. Auch der Verzicht darauf, die Gefühle von Trauer und Fassungslosigkeit schonungslos in Szene zu setzen, wäre nicht nur in diesem Fall für alle Beteiligten sehr wichtig. Tränen sind elementar, aber nicht durch andere aller Welt preiszugeben.


Dieser Artikel erschien am 14.4.2023 in Ausgabe #068.

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