„Um die Trotzwähler der AfD muss gerungen werden“
Diether Dehm (67), langjähriger Landesvorsitzender und Vordenker der Linkspartei in Niedersachsen, äußert sich im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick zu den Aussichten auf eine mögliche Beteiligung seiner Partei an der nächsten Landesregierung.
Rundblick: Herr Dehm, vor der Landtagswahl in wenigen Tagen wird über ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis in Niedersachsen diskutiert. Sie gelten als Vordenker und als Strippenzieher bei den niedersächsischen Linken. Ist Rot-Rot-Grün im Landtag aus Ihrer Sicht eine realistische Möglichkeit?
Dehm: Ich glaube, eine linke Zusammenarbeit im niedersächsischen Landtag ist die passende Antwort auf ein Jamaika-Bündnis. Das geht aber nur, wenn die Linke nicht, wie in Nordrhein-Westfalen, bei 4,9 Prozent hängenbleibt. Dann würde aber endlich wieder über gründliche Gesellschaftsentwürfe gestritten, die unter dem Berliner Mehltau ersticken. Zum Beispiel eine entschiedene Arbeitszeitverkürzung, wo der öffentliche Dienst Vorreiter sein könnte und wofür die digitale Steuerungstechnologie längst die Voraussetzung geliefert hat.
Rundblick: Wie genau sieht diese Utopie aus?
Dehm: Wenn wir die Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst des Landes vorbildlich umsetzen, dann werden die positiven Effekte deutlich. Das muss also den Handwerksmeister nicht erschrecken, der natürlich die Sorge hat, bei vollem Lohnausgleich zu höheren Kosten und geringerer Wettbewerbsfähigkeit zu kommen. Im öffentlichen Dienst wird das zu weniger Stress führen – das nützt der Qualität der Arbeit, ebenso wie der Gesundheit der Mitarbeiter.
Rundblick: Ein anderes großes Thema, das Sie nennen, ist die „Alterswürde“. Was meinen Sie damit?
Dehm: Erstmal eine völlige Neubewertung des Alters. Mit über 60 darf niemand mehr „altes Eisen“ sein. Wenn viele, manchmal auch Linke, pauschal auf „alte weiße Männer“ schimpfen, die uns angeblich den Brexit, Le Pen in Frankreich und Trump in den USA eingebrockt hätten, dann klingt das schon nach Altersrassismus. Wir brauchen das Gegenteil: einen gewürdigten, glückserfüllten dritten Lebensabschnitt ohne jede Altersarmut. Ich habe Sympathie für Rentenmodelle wie in Österreich oder in der Schweiz – wo jeder einen Prozentsatz seines Einkommens ohne Obergrenze einzahlt. Ich bin ja Unternehmer und erhielte dann eine gedeckelte Rente. Parallele Versorgungssysteme etwa für Beamte gibt es in diesen Systemen nicht. Unsere Landesregierung könnte hier, gemeinsam mit anderen Ländern, einen Neuaufbruch initiieren.
Rundblick: Gilt das auch für die Gesundheitspolitik?
Dehm: Unbedingt. Wir verlieren derzeit bundesweit jährlich zehntausende Menschen, die an multiresistenten Keimen sterben. Und zwar, weil an Krankenhauspersonal und Hygiene gekürzt und bei Kliniken privatisiert wurde. Außerdem wird viel zu schnell und, etwa bei Herz-Stents, auch zu häufig operiert, weil jede neue Einweisung 5000 Euro bringt. Aber eine Krankheit darf doch kein Spekulationsobjekt sein.
Rundblick: Ihre Politik kostet aber viel Geld – für mehr Personal, bessere Krankenhäuser, höhere Renten…
Dehm: Ja, das stimmt. Unser linker Spitzenkandidat, Henning Adler, geht bei Konsequenzen aus dem Dieselgate-Skandal noch weiter. Statt die Dieselfahrer immer mehr abzustrafen, brauchen wir den Landeseinfluss bei VW für vorbildliche, umweltschonende Antriebsarten. Und gerade jetzt: viel mehr Investitionen in die öffentlichen Verkehrsmittel. Es muss etwas getan werden gegen die zu hohen Fahrpreise, die ständigen Zugverspätungen und dagegen, dass fast jede Handyverbindung im Zug nach drei Minuten zusammenbricht. Unsere Bahn muss europäische Spitze werden. Eine alternative Landesregierung gegen Berlin sollte für einen neuen Generalverkehrsplan sorgen. In den Schulen brauchen wir mehr Lehrer, denn in kleineren Klassen – eine aktuelle Bertelsmann-Studie spricht sogar von circa vierzehn Schülern – lässt sich stressfreier lernen. Klar, das kostet alles viel Geld. Die Landesregierung muss hier auf der Bundesebene Druck machen. Ich bin gegen eine weitere Polarisierung von Einkommen und Vermögen und für eine gezielte Erhöhung der Steuern für Superreiche. Ich wende mich gegen die enormen Nato-Ausgaben, die Trump noch verdoppeln will. Statt in Drohnen und Panzer sollte in Bildung und Krankenhäuser investiert werden.
Um die Trotzwähler der AfD muss gerungen werden – ohne Umerziehungs- und Oberlehrerpose
Rundblick: Manches davon klingt populistisch – aber die Linke hat ja als populistische Partei inzwischen Konkurrenz von der AfD bekommen. Wie sollte man mit der AfD umgehen?
Dehm: Die Linke ist vielleicht populär, aber nicht populistisch. Jedoch zunächst auch ein paar selbstkritische Worte. Wenn andere nach rechts rücken, ist das auch für Linke ein Rückschritt, selbst, wenn wir dadurch Prozente gewännen. Wir sind keine selbstgefälligen Schriftgelehrten des Antifaschismus, sondern tragen eine gesellschaftliche Mitverantwortung auch für Fehler anderer und vor allem für insgesamt weniger Faschismus. Dafür, dass die SPD nicht weiter nach rechts geht, die CDU mit der AfD nie koaliert und dass innerhalb der AfD der Faschismus isoliert wird. Über Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats war ich mir auch mit Christian Wulff einig. Darüber reden wir selbstverständlich auch mit der CDU. Darum hatte ich ja damals als Erster gegen den AfD-Politiker Björn Höcke wegen seiner „Schandmal-Rede“ Strafanzeige gestellt. Aber wir dürfen keinesfalls alle AfD-Wähler pauschal zu Faschisten stempeln, wenn die vielleicht mit der Geschwindigkeit gesellschaftlicher oder technischer Umbrüche nicht mithalten, wenn sie an Heimat und Traditionen festhalten. Manche, die sich über Migration beschweren, meinen gar nicht die aus Lebensgefahr Geflüchteten. Um die Trotzwähler der AfD muss gerungen werden – ohne Umerziehungs- und Oberlehrerpose. Überspitzt gesagt: Auf der Seite der sich als „links“ einstufenden Politiker gibt es gelegentlich mehr Nachsicht mit der Krötenwanderung oder dem Wolf als mit verirrten Menschen.