Im Himmel weit über Norddeutschland ist ab Montag (12. Juni) die Hölle los. Die deutsche Luftwaffe hat die verbündeten Nato-Streitkräfte zur größten Verlegeübung seit Bestehen des transatlantischen Verteidigungsbündnisses eingeladen. 240 Flugzeuge und 10.000 Soldaten simulieren bis zum 23. Juni ein „Beistandsszenario“ nach Artikel 5 des Nato-Vertrags. Fast alle Bündnisstaaten sind an der Übung namens „Air Defender 2023“ beteiligt – sogar Beitrittskandidat Schweden und auch Japan ist mit Beobachtern dabei. Die wichtigste Rolle bei dieser Bündnisfall-Übung spielen die US-Streitkräfte, die 100 Transport-, Tank- und Kampfflugzeuge über den „großen Teich“ und aus anderen europäischen Stützpunkten nach Deutschland verlegen.

Während eines Trainingsfluges über der Ostsee verschießt ein A400M Hitzetäuschkörper, sogenannte Flares. Sie dienen der Abwehr von Waffen, die ihr Ziel über Hitzequellen ansteuern. | Foto: Bundeswehr/Francis Hildemann

„Es geht darum, die Interoperabilität der Streitkräfte zu trainieren“, erklärt Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz. Der Generalleutnant hatte die Groß-Übung bereits 2018 bei seinem Antrittsbesuch in den USA angestoßen, um die deutsche Entschlossenheit zur Bündnisverteidigung zu beweisen. „Deutschland möchte Verantwortung übernehmen, weshalb die Übung hier stattfinden wird“, sagt der gelernte Kampfpilot, der selbst noch regelmäßig ins Eurofighter-Cockpit steigt.

Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz gibt in Hannover einen Ausblick auf die Übung „Air Defender 2023“. | Foto: Link

Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine will die Nato die Großübung nicht verstanden wissen. Vielmehr bemüht sich das Verteidigungsbündnis um Deeskalation, indem es das Manöver nicht direkt an seiner Ostgrenze abhält. „Im Wesentlichen ist das deutschlandzentriert. Die Masse der rund 200 Flüge am Tag wird über der Nord- und Ostsee stattfinden“, sagt Gerhartz und betont: „Wir sind ein absolut defensives Bündnis, aber im Fall eines Angriffs wären wir in der Lage, uns zu verteidigen.“ Ein dritter Übungsraum befindet sich im Süden zwischen den Luftwaffenstützpunkten Spangdahlem (Rheinland-Pfalz), wo die Amerikaner ihr Tarnkappen-Mehrkampfflugzeug F-35 stationieren, und Lechfeld (Bayern), wo das US-Erdkampfflugzeug vom Typ „A-10“ steht. Der Großteil der amerikanischen Kampfflugzeuge wird sich in Jagel und Hohn in Schleswig-Holstein tummeln.

„Wir werden nach den Amerikanern die zweitgrößten Truppensteller sein. Das ist sicherlich auch der Anspruch, den die anderen europäischen Staaten an Deutschland haben“, sagt Gerhartz. Die Luftwaffe werde mit etwa 70 Flugzeugen an „Air Defender“ beteiligt sein. Darunter sind Eurofighter sowie Tornados aus allen Geschwadern und Verbänden, die deutsch-französische C130-Staffel (Transportflugzeuge), die multinationale Tanker-Staffel MMU aus Eindhoven und Köln/Bonn sowie die Nato-Aufklärungsflugzeuge vom Typ „Awacs“ und diverse Hubschrauber-Staffeln.

Vier Tornado-Kampfjets der Taktischen Luftwaffengeschwader 33 und 51 „Immelmann“ fliegen aus dem Auslandseinsatz „Counter Daesh“ nach Deutschland zurück. Für „Air Defender“ sind 16 Tornados geplant. | Foto: Bundeswehr/Miriam Altfelder

In Niedersachsen konzentriert sich das Geschehen auf dem Fliegerhorst Wunstorf (Region Hannover). „Als einziger deutscher Luftwaffenstandort für Transportflugzeuge ist Wunstorf bei Hannover der zentrale Standort, wenn es um den Lufttransport und die Luftbetankung geht“, berichtet Bundeswehr-Sprecher Cedric Kortenbruck. Er bezeichnet den Militärflughafen östlich des Steinhuder Meers als „Logistikdrehscheibe für Air Defender 2023“.

Der Fliegerhorst wurde ursprünglich 1934 angelegt und war zunächst Stützpunkt verschiedener Bomber- und Jagdgeschwader. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Royal Air Force den Standort, bis sie ihn 1958 an die Luftwaffe zurückgab, die ihn inzwischen zum Heimatstandort der deutschen Airbus-A400M-Flotte gemacht hat. Seit den 2009 gestarteten Modernisierungen mit mehr als 80 Einzelmaßnahmen im Gesamtwert von mindestens einer halben Milliarde Euro zählt Wunstorf zu den fortschrittlichsten Militärflugplätzen Europas.

Als Heimatbasis für eine riesige Nato-Luftflotte ist der Fliegerhorst aber nur bedingt geeignet, räumt Luftwaffen-Inspekteur Gerhartz ein. Problematisch ist vor allem die Treibstoffversorgung, denn anders als andere Militärflugplätze hat Wunstorf keinen Pipeline-Anschluss. Das Kerosin muss über die Schiene oder mit Straßentankwagen angeliefert werden, was sich im Verteidigungsfall als empfindliche Schwachstelle erweisen könnte.

In Wunstorf ist ein riesiges mobiles Feldtanklager entstanden: Jede der insgesamt acht Tankblasen hat ein Fassungsvermögen von 300.000 Litern Kerosin. Der Treibstoff wird von dort aus per Tanklaster zu den Luftfahrzeugen gebracht. | Foto: Bundeswehr/Christoph Vietzke

Für „Air Defender“ rechnet die Bundeswehr allein in Wunstorf mit einem täglichen Treibstoffverbrauch von 400.000 bis 500.000 Liter. Das Tanklager des Fliegerhorsts wäre da bereits nach wenigen Tagen leer, weshalb Pipelinepioniere aus Husum schon im Januar den Bau eines mobilen Treibstofflagers mit einem Volumen von 2,4 Millionen Litern gestartet hatten. Dadurch hat sich der Kerosinspeicher in Wunstorf mehr als verdoppelt. Eine Dauerlösung sind die mobilen Lagerstätten, die wie riesige Wärmflaschen inmitten von improvisierten Swimmingpools aussehen, freilich nicht. Bei der Luftwaffe gibt es deswegen Überlegungen, das stationäre Treibstofflager des Fliegerhorsts zu erweitern. Das würde zu den Erweiterungsplänen passen, die die Bundeswehr ohnehin für den Standort hat.

Aktuell sind dort lediglich 39 A400M stationiert, bis 2026 soll das Wunstorfer Lufttransportgeschwader 62 unter der Führung von Oberst Christian John jedoch über 53 dieser Multifunktionsflieger verfügen können. Die Vier-Propeller-Maschine, die die Transall abgelöst hat, kann sowohl als Transporter als auch als fliegende Tankstelle oder medizinische Intensivstation genutzt werden. Der 340 Kubikmeter große Laderaum ist groß genug, um entweder 114 Soldaten oder einen Schützenpanzer Puma zu transportieren. Während der jüngsten Sudan-Krise im April wurden die 11.000-PS-Flieger für Evakuierungsmissionen eingesetzt. Alle deutschen A400M sind in Wunstorf stationiert.

Das Seitenruder dieser A400M mit Sonderfolierung hat auf der einen Seite die Flagge des Gastgebers Deutschland und auf der anderen Seite die Flagge der USA. Die USA nimmt mit fast 100 Flugzeugen an der Übung teil. | Foto: Bundeswehr-Johannes Heyn

Die Evakuierung von Menschen unter feindlicher Bedrohung wird auch ein Übungsziel von „Air Defender“ sein. Außerdem werden die Abwehr von Drohnen-Angriffen oder Marschflugkörper-Attacken auf Städte sowie die Verteidigung von Flug- und Seehäfen simuliert. Die Wunstorfer Transportmaschinen werden vor allem Material transportieren und Kampfjets in der Luft betanken.

Die Auswirkungen auf die zivile Luftfahrt sollen nach Angaben der Bundeswehr minimal sein. „Die jüngste Studie hat ergeben: Es ist kein Flugausfall durch die Übung zu erwarten. Es sind nur hier und da wenige Minuten Flugverspätung einzukalkulieren“, sagt Luftwaffeninspekteur Gerhartz. Für das Manöver würden keine Übungsräume genutzt werden, die es nicht ohnehin schon gibt und auf die Bevölkerung am Boden wird so gut es geht Rücksicht genommen. „Wir werden nicht am Wochenende und nicht in der Nacht fliegen“, verspricht der Chef der deutschen Luftstreitkräfte und sagt: „In Hannover wird man Air Defender kaum wahrnehmen.“

Rund um Wunstorf ist dagegen mit verstärktem Fluglärm zu rechnen. Im Übungsluftraum Nord, zu den auch die niedersächsische Nordseeküste gehört, sollen die Flüge zwischen 16 und 20 Uhr stattfinden. Viel zu sehen wird es vom Boden aus aber nicht geben: „Air Defender“ wird sich in einer Flughöhe zwischen 2500 und 15000 Metern abspielen. Tiefflüge von Jets und Transportmaschinen auf bis zu 330 Meter sind nur über Ostdeutschland geplant.