Die Kurzarbeit schießt durch die Decke
Von Martin Brüning
Die Finanzkrise vor mehr als zehn Jahren werden viele als Sturm für die Wirtschaft wahrgenommen haben, aber jetzt kommt ein Orkan. Das wird aus Zahlen deutlich, die die niedersächsische Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit am Dienstag in Hannover mitgeteilt hat, die ohne Zweifel historisch zu nennen sind. 41.400 Unternehmen haben bis zum vergangenen Freitag in Niedersachsen Kurzarbeit angemeldet. Zum Vergleich: In der Finanzkrise waren es in Niedersachsen 4700 Unternehmen. Damals waren 100.000 Mitarbeiter betroffen, wie viele es diesmal sind, kann die Arbeitsagentur noch nicht einschätzen.
Aber allein schon anhand der Zahl der Anträge von Unternehmen ist für Bärbel Höltzen-Schoh, die Vorsitzende der Regionaldirektion, klar: „Jetzt kommt ein Vielfaches auf uns zu. Wir sind in einem Ausnahmemodus. Unsere Gesellschaft hat das noch nie erlebt, dass man von 100 auf null herunter gecrashed wird.“ Sie beschrieb das Paradoxon, dass man vor wenigen Wochen noch darüber gesprochen habe, wie man genügend Arbeitskräfte gewinnen kann, während jetzt die Unternehmen landauf, landab Kurzarbeit anmeldeten. „Wir haben dem Wirtschaftsleben praktisch den Stecker gezogen“, so die Vorsitzende der Regionaldirektion.
Vom Corona-Orkan sind alle Branchen in allen Region betroffen, vom Gasthof an der Nordseeküste bis zum kleinen Händler in Göttingen. Nicht nur für Unternehmer, sondern auch für die betroffenen Angestellten sei das eine schwierige Lage. Wer kein Geld hat, bekommt als Kurzarbeitergeld 60 Prozent des vorherigen Nettolohns, bei Arbeitnehmern mit Kind sind es 67 Prozent. Zu wenig, findet der Vorsitzende des DGB in Niedersachsen, Mehrdad Payandeh. „Viele Betroffene können davon nicht leben. Daher muss sich das Land Niedersachsen auf Bundesebene dafür stark machen, dass auch ohne Tarifbindung mindestens 80 Prozent des Nettolohns sichergestellt ist“, forderte er gestern.
Arbeitsagentur hat personell aufgerüstet
Die Arbeitsagenturen stellt der Massenansturm derweil vor große Herausforderungen. Höltzen-Schoh sprach von einem riesigen Andrang, der dazu geführt habe, dass viele Unternehmer die Arbeitsagenturen zu Beginn nicht erreicht hätten. Zugleich ist der Beratungsbedarf aber groß, denn viele Unternehmer, vom Friseur bis zum Buchhändler, um die es jetzt geht, hatten vorher noch nie mit dem Thema Kurzarbeit zu tun. Jetzt hat die Arbeitsagentur personell aufgerüstet. 75 Mitarbeiter bearbeiten bei der Regionaldirektion Niedersachsen-Bremen in normalen Zeiten das Thema Kurzarbeit.
„Seit gestern sind es 425 Mitarbeiter, Ende der Woche werden wir bei 750 Mitarbeitern sein. Wir haben die personellen Ressourcen also verzehnfacht“, sagte Johannes Pfeiffer, Geschäftsführer für das operative Geschäft der Regionaldirektion. Hilfreich ist, dass es laut Pfeiffer auch in den Arbeitsagenturen eine „außergewöhnliche Welle der Hilfsbereitschaft“ gibt. „Viele Kollegen bieten ihre Unterstützung an, es werden viele Überstunden gefahren, Kollegen verzichten auf Urlaub und arbeiten auch am Wochenende.“
40 bis 50 Minuten dauert die Bearbeitung eines Kurzarbeiterantrags, ganz grob im Durchschnitt. Die Regionaldirektion hat sich zum Ziel gesetzt, dass bis zur „Woche um Ostern herum“ alle Anträge abgearbeitet sein sollen. Ein Enddatum, das ist allen klar, kann man zum jetzigen Zeitpunkt aber ohnehin nicht setzen. „Wir alle wissen nicht, wie lange es dauert. Wir gehen aber davon aus, dass es ein Marathon wird und kein Sprint“, sagt Pfeiffer.
Pfeiffer: Kurzarbeitergeld kann nicht ausgehen
Sorgen, dass dem Staat das Kurzarbeitergeld ausgeht, muss Pfeiffers Worten nach niemand haben. Es handle sich um eine gesetzliche Leistung, und die Arbeitsagentur habe auf Bundesebene eine Reserve von 26 Milliarden Euro. Und selbst, wenn diese am Ende nicht reichen sollten, hätten die Unternehmen weiterhin das Recht auf diese Leistung. In dem Fall müsse der Bund einspringen. Bei Industrie und Handwerk auf Bundesebene gibt es inzwischen den Wunsch, die Regelungen zum Kurzarbeitergeld in der Corona-Krise noch auszuweiten. Aktuell bekommen Auszubildende die volle Ausbildungsvergütung, auch wenn der Betrieb Kurzarbeit anmeldet.
Arbeitsmarktzahlen von Mitte März haben kaum noch Aussagekraft
Kaum Interesse gab es gestern an den neuesten Arbeitsmarktzahlen. Kein Wunder, die Statistik reicht gerade einmal bis Donnerstag, den 12. März. Am Montag darauf wurden die Schulen geschlossen. Die Zahlen zeigen: vor gut drei Wochen war die Lage am Arbeitsmarkt noch rosig. Die Zahl der Arbeitslosen war gegenüber dem Vormonat um 3,3 Prozent auf 220.490 gesunken, die Arbeitslosenquote lag nur noch bei 5,1 Prozent.
Was sind die Zahlen noch wert? Nicht mehr viel. In den vergangenen Tagen hat sich die Lage am Arbeitsmarkt dramatisch verändert. Schon in Kürze rechne man mit einem Anstieg bei Arbeitslosen, sagte Höltzen-Schoh. Betriebe würden aufgrund ausbleibender Einnahmen Beschäftigte entlassen und angesichts der Planungsunsicherheit nur zögerlich einstellen. Wer nicht entlässt, versucht mit der Kurzarbeit so lange wie möglich über Wasser zu halten. Man rechne bundesweit mit 2,15 Millionen Kurzarbeitern aufgrund der Corona-Krise, hieß es vor einigen Tagen von der Bundesregierung. Wissen kann das bislang allerdings noch niemand. Es wird eben ein Marathon, und die Wirtschaft ist auf den ersten Kilometern.