7. Okt. 2025 · 
Blick in die WirtschaftWirtschaft

Der Aktienindex, den niemand kennt: Was der Nisax über Niedersachsens Wirtschaft erzählt

Still, stabil, unterschätzt: Der Nisax zeigt, wie sich Niedersachsens Wirtschaft verändert – und warum Verlässlichkeit an der Börse manchmal die beste Währung ist.

Was haben der Fruchtlikör aus Haselünne, der Stahl aus Salzgitter, das Saatgut aus Einbeck und die Autos aus Wolfsburg gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel, doch an der Börse Hannover werden sie alle im selben Index gelistet: im Nisax, dem niedersächsischen Aktienindex, der im Gegensatz zu Dax, Nikkei oder Dow Jones völlig unbekannt ist. Seit 23 Jahren misst er, wie sich die wichtigsten börsennotierten Unternehmen des Landes entwickeln. Vom Bockbier bis zum Fotobuch, vom Reifen bis zur Rückversicherung – der Nisax zeigt, wie breit Niedersachsens Wirtschaft aufgestellt ist und zeichnet eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte nach.

An der Börse Hannover ist der Nisax gelistet, wird dort aber nicht gehandelt. | Foto: Link

Eigentlich war der Nisax die niedersächsische Reaktion auf die Einführung des sogenannten „Weißwurst-Index“ kurz nach der Jahrtausendwende, mit dem die Bayerische Landesbank die 30 Top-Aktienunternehmen des Freistaats bündeln wollte. Die Nord/LB dachte sich: Das können wir auch – und stellte die 20 wichtigsten börsennotierten Firmen aus Niedersachsen in einem eigenen Index zusammen. Ein „Grünkohl-Index“, wenn man so will. Der Nisax20, wie er damals hieß, sollte zeigen, dass auch zwischen Harz und Nordsee echte Börsenschwergewichte zu Hause sind.

Zur großen Bekanntheit brachte es der Niedersachsen-Index nie, doch er hat sich als überraschend langlebig erwiesen. Während das bayerische Pendant schon nach wenigen Jahren wieder verschwand, hat sich der Nisax als regionales Wirtschaftsbarometer wacker gehalten. Als die Nord/LB das Interesse verlor und der Indexanbieter Stoxx die Berechnung im Sommer 2020 einstellte, schien die Idee zwar erledigt – doch an der Börse Hannover wollte man sie nicht begraben. Dort wurde der Nisax neu aufgelegt, inzwischen berechnet von der ICF Bank in Frankfurt. Und siehe da: Das vermeintliche Auslaufmodell startete durch. Im August 2022 erreichte der Index ein Allzeithoch von 8800 Punkten – satte 7800 Punkte über seinem Startwert von 1000 Punkten im Mai 2002. Heute steht der Nisax bei rund 8416 Punkten (Stand: 7. Oktober 2025). Für einen Regionalindex, der weitgehend unter dem Radar läuft, ist das eine durchaus respektable Leistung.

Die Wirtschaftskraft niedersächsischer Konzerne anschaulich gemacht: Der Aktienindex Nisax ist seit Einführung um über 800 Prozent gestiegen. | Grafik: Börse Hamburg/Börse Hannover

Schwergewichte tragen den Index

Der Nisax verdankt seine Stabilität vor allem seiner Zusammensetzung. An der Spitze stehen die großen Namen des Landes: die Dax-Konzerne Volkswagen, Continental, Symrise und Hannover-Rück sowie die erst kürzlich in die zweite deutsche Aktienliga abgestiegene Sartorius AG. Jedes dieser Unternehmen wird zu jeweils 15 Prozent für den Nisax gewichtet – selbst wenn es an der Börse deutlich größer ist. So wird verhindert, dass ein einzelner Konzern den Index zu stark beeinflusst. Wenn also die VW-Aktie fällt, reißt sie den gesamten Nisax nicht sofort mit nach unten, was ihn stabiler als viele andere Börsenbarometer macht.

Vier Unternehmen aus Niedersachsen sind im Dax vertreten: Volkswagen, Continental, Symrise und Hannover Rück. | Foto: VW, Continental, Symrise, Hannover Rück

Ergänzt wird diese Spitzengruppe durch Unternehmen, die vielleicht weniger bekannt sind, aber in ihren Branchen eine feste Größe darstellen. Dazu zählen der Versicherer Talanx aus Hannover, der Stahlhersteller Salzgitter AG, der Fotodienstleister Cewe aus Oldenburg, der Saatgutspezialist KWS Saat aus Einbeck, der Touristikkonzern Tui aus Hannover, die Windkraftfirma PNE aus Cuxhaven und der Biogasanlagenbauer Envitec-Biogas aus Lohne. Auch Traditionsunternehmen wie das Einbecker Brauhaus und die Berentzen-Gruppe aus Haselünne sind vertreten. Insgesamt umfasst der Nisax 20 börsennotierte Unternehmen, die gemeinsam fast alle zentralen Branchen des Landes abbilden. Die Gewichtung wird regelmäßig überprüft, damit der Index nicht zu stark von einzelnen Entwicklungen abhängt.

Gewinner, Verlierer und Aufsteiger

Ein Aktienindex erzählt immer nur die Geschichte der Gewinner – die Verlierer verschwinden leise. Auch der Nisax bildet da keine Ausnahme. Einige der früheren Mitglieder existieren heute gar nicht mehr. Die Linos AG aus Göttingen, einst ein führender Hersteller optischer Systeme, wurde 2006 von einem britisch-amerikanischen Konzern übernommen und verschwand kurz darauf aus dem Index – nur der Markenname lebt bis heute weiter. Die BHW Holding aus Hameln, ehemals ein großer Baufinanzierer, ging in der Postbank auf und verschwand ebenfalls vom Kurszettel. Die traditionsreiche Varta AG, ursprünglich mit Sitz in Hannover, verlagerte ihren Schwerpunkt schon in den 1990er-Jahren nach Baden-Württemberg. Heute produziert sie weiter Batterien, doch der niedersächsische Bezug ist Geschichte. Und die Helma Eigenheimbau AG aus Lehrte musste 2024 nach der Zinswende Insolvenz anmelden – aus Aktionärssicht ein Totalausfall.

Börsennotierte Innovationen aus Niedersachsen: Gasleitungen von Friedrich Vorwerk (von oben links im Uhrzeigersinn), Biogasanlagen von EnviTec, Glassubstrat für die Halbleiterindustrie von LPKF und Windkraft von PNE. | Foto: Vorwerk, EnviTec, LPKF, PNE

Einige Traditionsnamen haben ebenfalls an Gewicht verloren: Tui war zum Start mit 15 Prozent eines der Nisax-Schwergewichte, heute wird der Reisekonzern nur noch mit rund neun Prozent gewichtet. Continental kämpft mit dem Umbruch zur Elektromobilität und notiert weit unter früheren Kursrekorden. Dafür rücken neue Unternehmen nach oben – vor allem Gewinner der Energiewende: Die PNE AG aus Cuxhaven entwickelt und betreibt Windparks weltweit, Envitec Biogas aus Lohne baut Anlagen zur Erzeugung von Biomethan, und die Friedrich-Vorwerk-Group aus Tostedt plant und installiert Energieleitungen für Strom und Wasserstoff. Und mit dem Prothesenbauer Ottobock aus Duderstadt steht schon der nächste Mittelständler kurz vor dem Sprung aufs Börsenparkett, der sicher auch ein heißer Nisax-Kandidat wäre.

Kein Anlageprodukt, sondern Standortbarometer

Dass der Nisax kaum öffentliche Aufmerksamkeit bekommt, passt zur Mentalität des Landes. In Niedersachsen werden eben lieber Autos gebaut als Aktien gehandelt. Die Börse Hannover betreibt den Index mit professioneller Routine, aber ohne großes Werbetamtam. Investieren kann man in den Nisax zwar nicht, aber er verleiht dem Finanzplatz Niedersachsen etwas Sichtbarkeit – und ein bisschen Selbstbewusstsein. Wie auch der Hamburger Haspax, der die wichtigsten börsennotierten Unternehmen der Hansestadt bündelt, erfüllt der Niedersachsen-Index vor allem eine Schaufensterfunktion: Er zeigt, was in einer Region wirtschaftlich passiert und welche Unternehmen dort Gewicht haben.

Die Nord/LB, die den Nisax einst aufgelegt hat, führt ihre Standortbeobachtung heute auf andere Weise fort. Mit ihrer regelmäßig veröffentlichten Liste der 100 größten Unternehmen Niedersachsens versucht sie, die wirtschaftliche Stärke im ganzen Land abzubilden – von den Metropolen bis in die Fläche. Aber auch der Nisax selbst hat sich inzwischen geöffnet: Statt auf 20 Werte beschränkt zu bleiben, kann er heute bis zu 50 Unternehmen umfassen. Es ist also noch viel Platz für neue Aktiengesellschaften aus Niedersachsen – etwa für die Oldenburgische Landesbank, die ihren Börsengang vorbereitet, oder für mittelständische Technologiefirmen, die den Schritt an den Kapitalmarkt wagen könnten.


Dieser Artikel erschien am 8.10.2025 in Ausgabe #176.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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