18. Mai 2025 · 
PorträtParteien

Das ist die Chance der SPD: Mit dem Menschenfischer Olaf Lies Vertrauen sichern

Das „Du“ ist unter Sozialdemokraten eine gewöhnliche Anrede – vor allem auf Parteitagen, wenn man sich gegenseitig als „Genosse“ anspricht. Auf Außenstehende, die nicht der SPD angehören, wirkt das manchmal sonderbar, mitunter sogar ausgrenzend. Für Olaf Lies hingegen, den nächsten niedersächsischen Ministerpräsidenten, soll das „Du“ über die eigene Partei hinaus verbindend wirken. Zwar nicht nach dem Motto „Wir sind alle Freunde“, sondern eher nach dem Leitspruch: „Wir arbeiten gemeinsam am Gelingen der Sache, wir arbeiten also zusammen.“ Das ist aber ein anderes „Du“ als das, was auf SPD-Parteitagen immer wieder zu hören ist.

Eine der spannenden Fragen, die mit der Amtsübergabe von Ministerpräsident Stephan Weil an seinen Nachfolger Olaf Lies verbunden sind, lautet so: Wird dadurch, dass Lies mit vielen Menschen gern per „Du“ ist und nicht nur mit Sozialdemokraten, seine Bindung an die eigene Partei geringer? Bisher hat man das nicht gemerkt. Herausragende Ergebnisse bei Vorstandswahlen belohnten bisher Lies auf SPD-Landesparteitagen. Der Sonderparteitag am vergangenen Freitag, bei dem er für das höchste Staatsamt in Niedersachsen nominiert wurde, war ein rauschendes Fest. Unter dem Jubel von Delegierten und altgedienten Mitgliedern zogen Lies und Weil in den Saal, ein Blitzlichtgewitter begleitete beide. Was Lies angeht, ist diese Popularität in der SPD vermutlich vor allem zwei Tatsachen geschuldet, zum einen der bedingungslosen Loyalität zu Stephan Weil, die Lies seit 13 Jahren gezeigt hat – seit Weil Lies in der Mitgliederbefragung zur Spitzenkandidatur für die Landtagswahl 2013 überrundet hatte. Zum anderen ist es die Erkenntnis, dass die höchst kommunikative Art von Lies etwas sehr Gewinnendes hat, von dem die SPD noch lange profitieren kann. Als Wirtschafts- und zuvor als Umweltminister war es ihm gelungen, unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Interessen zusammenzuführen. Wenn Lies mit Wirtschaftsleuten spricht, wirkt es ganz so, als sei er voller Verständnis für deren Sorgen und Nöte. Wenn er kurz danach mit Gewerkschaftern redet, trifft er ebenfalls auf viel Zuspruch und Verständnis. Schließlich war er einst einer von ihnen, vor seinem Schritt in die Berufspolitik arbeitete Lies als Personalratsvorsitzender in der Fachhochschule Wilhelmshaven.

Der designierte Ministerpräsident Olaf Lies gibt ein Pressestatement ab. | Foto: Link

Wie ist das möglich? Es gibt drei Erklärungen für die enorme Beliebtheit von Lies. Erstens tritt er den Menschen offen und zugewandt gegenüber. Er hört zu, wirkt dabei interessiert und zeigt Empathie. Selten vermittelt er den Eindruck, genervt zu sein oder das Problem selbst besser zu kennen. Viele Menschen, denen er begegnet, werden von ihm umarmt – und spüren das als Sympathiebeweis. Zweitens spricht aus vielen seiner Aussagen das Bemühen, verschiedene Positionen zusammenzubringen und gemeinsam eine Verbesserung zu erreichen. Kritische Punkte umschifft er dann gern – und weil Lies schnell redet und rasch zum nächsten Thema springt, bleiben Widersprüche oder Unklarheiten in seinen Reden oft unerkannt. Bevor man nachhaken kann, hat er längst schon einen neuen Gedanken geäußert. Journalisten, die seine Reden mitschreiben und hinterher daraus eine Nachricht formen sollen, merken das sehr häufig: Hin und wieder fehlt das logische Ende des einmal begonnenen Satzes. In der mangelnden Konkretisierung von Aussagen liegt auch die Stärke, Konflikte zu umgehen oder zu vermeiden. Das ist überlebenswichtig für Politiker, die möglichst nicht zu oft anecken sollten. Drittens strahlt Lies den unerschütterlichen Optimismus aus, ist sehr oft guter Laune und geht frohgemut in den Tag. Das mag zuweilen gespielt sein, und hin und wieder merkt man ihm auch an, wenn die Zeiten stressreich sind und Verhandlungsergebnisse nicht schnell den gewünschten Erfolg zeigen. Manche meinen, Lies könne dann auch sehr hart sein und sehr deutlich auf seiner Meinung beharren. So legt er es einerseits darauf an, viele gute Ratschläge zu hören und Kompromisse zu finden. Doch wenn Lies merkt, dass er in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll, kann er solche Prozesse auch beenden und entscheiden – denn als „zu weich“ oder „zu lieb“ will er auch nicht gelten, schließlich wäre das gleichbedeutend mit Schwäche.

Es hat in seinem politischen Leben Krisensituationen gegeben. Die „Vergabeaffäre“ von 2017 zählt dazu, wegen Ungereimtheiten bei Auftragserteilungen in dem von ihm geführten Wirtschaftsministerium musste die Staatssekretärin Daniela Behrens, heute Innenministerin, ihren Hut nehmen. Gleiches galt für Lies‘ Pressesprecher. Lies überstand die Affäre unbeschadet, er war in die Vorgänge auch nicht involviert gewesen. Schon damals schützte ihn die Tatsache, dass er weit über die eigenen Parteigrenzen hinaus als fleißiger, rechtschaffener und engagierter Politiker wahrgenommen wurde. Später war es sein schier unbegrenzter Drang nach Ausgleich und Verständigung, der hin und wieder als übertrieben oder unangebracht kritisiert wurde. Als Greenpeace-Aktivisten das Landtagsdach besetzten und den Parlamentsbetrieb störten, suchte Lies das Gespräch mit ihnen – und sah aber später ein, dass das ein Fehler war, da die Aktivisten mit krimineller Energie vorgegangen waren und durch sein Agieren für ihre Tat noch eine Aufwertung erfuhren. Auch der Dialog mit den Gegnern des Südschnellweg-Ausbaus in Hannover wurde hinterfragt – zumal doch klar war, dass Lies an den schon lange festgefügten Plänen nichts mehr hatte ändern können. Sind manche Umarmungsversuche des SPD-Politikers also nur Show, weil er nur so tut, als könne er etwas bewegen?

Umarmung als Show? Nein, das ist schon ernstgemeint. | Foto: Kleinwächter

In Lies‘ Umfeld ist dieser Verdacht bekannt – und wird zurückgewiesen. Lies ist ein Arbeitstier, nimmt sich eher zu vielen als zu wenigen Themen an, vertieft sich auch gern in Details. Da kann es sein, heißt es, dass er oft ein Gespräch zu viel führt als eines zu wenig. Es komme vor, dass er noch verhandeln wolle, wenn eigentlich alles ausverhandelt ist. Als Wirtschaftsminister musste es ihm darauf ankommen, vor allem der Kummerkasten und Therapeut für die vielen Sorgen und Nöte der Unternehmen und der Beschäftigten zu sein. Aber als Ministerpräsident ist Entscheidungsstärke gefragt, oft auch in schwierigen Fragen und oft unter einem Zeitdruck, der die Einbeziehung wichtiger Akteure gar nicht mehr erlaubt. Wird Lies das schaffen?

Lies ist bei seiner Mutter und Großmutter aufgewachsen. Eine Vaterfigur fehlte. Er besuchte die Realschule im heimischen Sande (Kreis Friesland) und machte seinen Abschluss, lernte bei der Marine Funkelektroniker, wurde Marinesoldat und studierte Elektrotechnik an der Fachhochschule Wilhelmshaven. Dort war er dann erst wissenschaftlicher Mitarbeiter, später Personalratsmitglied und -vorsitzender. Erst 2002, mit 34, trat er der SPD bei, ging in die Kommunalpolitik in der Gemeinde Sande und im Kreis Friesland, legte sich mit dem SPD-Urgestein Karl-Heinz Funke an und galt sodann als „junger Wilder“, aufstrebend, ehrgeizig und gestaltungswillig. Er wurde SPD-Landeschef, wollte auch Ministerpräsident werden – und wurde von Stephan Weil ausgebremst, blieb aber dann nach der Landtagswahl 2013 immer einer der wichtigsten Leute, wenn nicht der wichtigste Mann an der Seite des Regierungschefs. Seine zugewandte Art hat er in der Ministerzeit erst richtig ausgeprägt – und gleichzeitig gezeigt, wie belastungsfähig er ist. Einige Erfolge gehen auf sein Konto, in jüngster Zeit die raschen Planungen für ein LNG-Terminal und die Rettung der Meyer-Werft über eine Staatsbeteiligung. Die Wirtschaftsführer loben ihn über den grünen Klee, wohl auch, weil er immer so schwungvoll und zupackend auftritt.

Womöglich ist ein Teil des guten Rufes auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass Lies ein „klassischer Sozialdemokrat“ eigentlich nicht ist. Erst mit 34 schloss er sich der SPD an, die Juso-Prägung mit all den Konflikten zwischen alten und jungen Genossen, mit Ränkespielen, Intrigen und der üblichen Vereinsmeierei hat er nicht mitgemacht. Sein bisher so erfolgreicher Weg zeigt aber erstaunlicherweise, dass er all diese Erscheinungen kennt und gut darauf reagieren kann. Vielleicht ist es auch das Fehlen dieses SPD-Stallgeruchs, das ihm künftig, im hohen Staatsamt, die Arbeit noch erleichtern kann. Denn Lies setzt ganz darauf, die Umarmung des politischen Gegners auch als Ministerpräsident fortzusetzen. Er versteht sich als Regierungschef, der über den Parteien steht und die Interessen der Allgemeinheit im Blick hat. Lies wird das im künftigen Amt vermutlich besser können als die meisten seiner Vorgänger.

Die SPD Niedersachsen hat Olaf Lies einstimmig für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert. | Foto: Kleinwächter

Aber könnte das auch das Risiko beinhalten, dass Lies sich von der eigenen Partei entfernt? Der SPD-Landesparteitag hat Lies am 16. Mai in einer Atmosphäre, die einem Wahlkampfauftakt glich, einstimmig zum Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert. Die Einpeitscher-Rede hielt Stephan Weil – und er hatte vor allem zwei Botschaften an die Delegierten und Funktionsträger der Niedersachsen-SPD. Erstens sei eine Partei nur stark, wenn sie auch geschlossen sei. Und zweitens könnten die Spitzenpolitiker der SPD nur erfolgreich agieren, mit den Medien und dem politischen Gegner streiten, wenn sie "die Solidarität der Partei mit der Führung" spürten. Das war ein unverhohlener Appell an die Genossen, den neuen Ministerpräsidenten nicht im Regen stehen zu lassen. "Ich bitte Euch ganz herzlich, all die Unterstützung, die ich in all den Jahren erfahren habe, auf Olaf Lies zu übertragen. Er braucht diese Unterstützung." Lies sagte in seiner Rede: "Ich bin froh bei Euch zu sein - aber ich bin auch froh, dass Ihr bei mir seid." Das schönste sei, von Leuten umgeben zu sein, die einem zur Seite stehen. Lies sprach vom guten Draht zu den Gewerkschaften, vom Wert der Sozialpartnerschaft, von den Leistungen des bisherigen Bundesarbeitsministers Hubertus Heil, von den Bundes-Koalitionsverhandlungen, von der Neuordnung der Förderprogramme, von der Startup-Förderung, von den begeisterten Menschen beim Kirchentag und von der Wichtigkeit des Mindestlohns. Der Beifall war kräftig, Jubel kam an manchen Stellen auch auf. Aber unterm Strich hatte an diesem Tag doch Stephan Weil den weitaus stärkeren Beifall bekommen. Weil Weil besser reden kann? Weil Weil in der SPD doch stärker verankert ist? Vielleicht deshalb, weil die SPD sich erst vom Alten verabschieden muss, bevor sie den Neuen richtig herzlich willkommen heißen kann.

Dieser Artikel erschien am 19.5.2025 in Ausgabe #092.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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