13. Dez. 2021 · Justiz

"Das dicke Ende kommt noch": OVG-Präsident Smollich zieht Bilanz der Corona-Klagen

OVG-Präsident Thomas Smollich im Rundblick-Interview. | Foto: Canva, OVG

Der Präsident des Oberverwaltungsgerichts in Lüneburg, Thomas Smollich, rechnet durchaus noch mit mehreren interessanten Gerichtsentscheidungen zu den Corona-Beschränkungen. Vieles könne im Hauptsacheverfahren strenger und anders von den Richtern bewertet werden als in den Eilentscheidungen. Smollich, der auch Präsident des Staatsgerichtshofs in Bückeburg ist, äußert sich im Interview mit dem Politikjournal Rundblick.

Rundblick: In den ersten Monaten der Corona-Pandemie hatte man den Eindruck, dass die Verwaltungsgerichte in Deutschland sehr großzügig gegenüber den staatlichen Beschränkungen waren. Viele Eilentscheidungen fielen zuungunsten der Beschwerdeführer aus. Täuscht der Eindruck?

Smollich: Für Niedersachsen dürfte dieser Eindruck täuschen. Richtig ist, dass zu Beginn der Pandemie nur eingeschränkte Erkenntnisse über das Covid19-Virus vorlagen. Hieraus folgte aber nicht, dass die Verwaltungsgerichte den staatlichen Beschränkungen unkritisch gegenüberstanden. Vielmehr gab es auch in den ersten Monaten der Corona-Pandemie zahlreiche stattgebende Entscheidungen. Beispielhaft zu erwähnen sind da Verfahren betreffend die Quarantäne für Reiserückkehrer (Beschluss von April 2020), die Schließung von Piercing-Studios (Beschluss von Mai 2020), das Verbot von Kutschfahrten (Beschluss von Juli 2020), die Schließung von Prostitutionsstätten (Beschluss von August 2020) sowie im Herbst 2020 die vorläufige Außervollzugsetzung des Beherbergungsverbots und der Sperrstunde in der Gastronomie. Die Anzahl der erfolgreichen Eilanträge lag damit in den ersten Monaten der Pandemie weder deutlich niedriger noch deutlich höher als in der nachfolgenden Zeit, sondern bewegte sich insgesamt gesehen auf einem Niveau von fünf bis acht Prozent. Zu berücksichtigen ist aber, dass die „Erfolgsquote“ nur ein bedingt aussagekräftiger Faktor ist. Wenn sich beispielshalber neun verschiedene Antragsteller erfolglos gegen die Maskenpflicht wenden und sich auf der anderen Seite nur ein Antragsteller erfolgreich gegen die Schließung seines Piercing-Studios wendet, ist die Erfolgsquote von dann zehn Prozent nicht wirklich aussagekräftig. Insgesamt hat die niedersächsische Verwaltungsgerichtsbarkeit nach meinem Eindruck die staatlichen Einschränkungen stets kritisch auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft.

Rundblick: Gibt es bei Eilentscheidungen andere Kriterien und Gesichtspunkte zu berücksichtigen als in den Hauptsacheverfahren? Welche Kriterien werden in den Hauptsache-Verfahren stärker gewichtet?

Smollich: Bei den Eilverfahren steht eine schnelle, effektive Rechtsschutzgewährung im Vordergrund. Insbesondere bei den Corona-Verfahren standen aufgrund der zeitlichen Befristungen der Regelungen in den jeweiligen Verordnungen oft nur wenige Wochen, teilweise nur wenige Tage zur Verfügung, um effektiven Rechtsschutz zu gewähren. In solchen Fällen ist es weder möglich noch prozessrechtlich vorgesehen, offene Streitfragen etwa durch die Einholung von wissenschaftlichen Gutachten abschließend zu klären. Deswegen wurde und wird in diesen Fällen teilweise in einer Abwägung geprüft, welche Interessen - bei den Corona-Verfahren also typischerweise der Gesundheitsschutz auf der einen und individuelle Interessen der Antragsteller auf der anderen Seite - stärker zu gewichten sind und welche gegebenenfalls zurückzutreten haben. Im Hauptsacheverfahren gilt demgegenüber der sogenannten Amtsermittlungsgrundsatz, das heißt die maßgeblichen Umstände müssen von Amts wegen vollständig ermittelt werden. Bei den Corona-Verfahren ist dabei allerdings zu berücksichtigen, dass die Regelungen und Maßnahmen jeweils bezogen auf den Zeitpunkt ihres Erlasses zu überprüfen sind (die sogenannte Ex-ante-Betrachtung). Das bedeutet, eventuell durch neue wissenschaftliche Untersuchungen gewonnene Erkenntnisse sind dabei grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. 

Rundblick: Erwarten Sie auch in Niedersachsen in den wichtigen Streitfragen wie Ausgangssperre, Handelsbeschränkungen oder Versammlungsverboten noch wegweisende Urteile – oder dürften diese meistens deswegen ausfallen, weil die Zeit über diese Corona-Beschränkungen inzwischen hinweggegangen ist?

Smollich: Auch wenn in der Vergangenheit angegriffene Vorschriften in den Corona-Verordnungen mittlerweile außer Kraft getreten sind, kann über ihre Rechtmäßigkeit gleichwohl noch in Hauptsacheverfahren entschieden werden. In derartigen Verfahren wird dann festgestellt, ob die Maßnahmen rechtswidrig oder rechtmäßig waren. Derartige Klagen bleiben trotz des Außerkrafttretens der Verordnung in der Regel zulässig, weil die Kläger entweder unter dem Gesichtspunkt des tiefgreifenden Grundrechtseingriffs und weil sie mit der verwaltungsgerichtlichen Feststellung eine Entschädigungsklage vorbereitet wollen, weiterhin ein Interesse an einer gerichtlichen Klärung geltend machen können. Erste Entscheidungen in Hauptsacheverfahren sind inzwischen entschieden. So ist die allgemeine Maskenpflicht nach der Corona-Verordnung vom 17. April 2021 und die Maskenpflicht in Fitnessstudios nach der Corona-Verordnung vom 22. Oktober.2021 rechtmäßig gewesen und damit die im Normenkontrolleilantrag gewonnene Auffassung bestätigt worden. Im Gegensatz zum Normenkontrolleilverfahren hat das Gericht allerdings Beschränkungen im Zusammenhang mit Autowaschanlagen (Corona-Verordnung vom 2. April 2020 im Hauptsacheverfahren für unwirksam erklärt. In allen Verfahren hat das Gericht festgestellt, dass die Corona-Verordnungen auf einer tauglichen Rechtsgrundlage beruhten. Mit weiteren Entscheidungen etwa zur Zulässigkeit von Betriebsschließungen ist noch zu rechnen.

Rundblick: Mal angenommen, der Betreiber eines Fitness-Studios bekäme rückwirkend Recht in seiner Beschwerde gegen die Schließung. Hätte er dann vermutlich Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung? Wie wahrscheinlich ist die Vermutung, dass auf den Staat nach Abschluss der juristischen Aufarbeitung der Corona-Verordnungspolitik eine Welle an Entschädigungszahlungen zukommt?

Smollich: Aktuell sind noch zahlreiche Normenkontrollhauptsacheverfahren am Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht anhängig. Die Antragsteller verfolgen – wie bereits ausgeführt – unter anderem das Ziel, die Rechtswidrigkeit etwaiger Betriebsschließungen in den Corona-Verordnungen feststellen zu lassen, um – in einem zweiten Schritt – gerichtlich Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Solche Entschädigungen sind aber grundsätzlich vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen. Ob im Falle einer rechtswidrigen Schließungsanordnung den Betrieben tatsächlich ein Entschädigungsanspruch zusteht, wird in nächster Zeit sicherlich durch die Zivilgerichte auch höchstgerichtlich geklärt werden.

Rundblick: Noch eine grundsätzliche Frage: Die Corona-Beschränkungen geschehen bis heute auf der Basis von Regierungsverordnungen, nicht von Gesetzen. Sehen Sie das als einen Mangel an, den man hätte rechtzeitig heilen können und müssen?

Smollich: Bei den auf das Infektionsschutzgesetz gestützten Maßnahmen handelt es sich um Maßnahmen, die der Abwehr von Gefahren dienen. Im Gefahrenabwehrrecht ist das Handeln durch Rechtsverordnung grundsätzlich ein zulässiges Instrument, dass sich insbesondere aufgrund der schnellen Handlungsmöglichkeiten bewährt hat. Allerdings hat der unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgeber im Infektionsschutzgesetz weitreichende und sehr grundrechtsintensive Entscheidungen auf den Verordnungsgeber übertragen, was verfassungsrechtliche Fragen aufwirft. So ist noch nicht abschließend geklärt, in wieweit es verfassungsrechtlich zulässig ist, dass der parlamentarische Gesetzgeber die Gesetzgebungsbefugnis in diesem Umfang auf die Exekutive delegiert hat. Der für das Infektionsschutzrecht zuständige 13. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ist jetzt in den ersten Hauptsacheverfahren zu dem Ergebnis gelangt, dass die Verordnungsregelungen grundsätzlich auf einer tragfähigen und dem Parlamentsvorbehalt genügenden Rechtsgrundlage beruhten und hat damit seine Einschätzung in den Eilverfahren bestätigt. Eine endgültige Klärung dürfte durch das Bundesverfassungsgericht zu erwarten sein. Inzwischen finden sich ausdrückliche Rechtsgrundlage für Beschränkungen unmittelbar im Infektionsschutzgesetz. Der Niedersächsische Staatsgerichtshof hat in seinem Grundsatzurteil vom 9. März 2021 (StGH 3/20) den Anwendungsbereich und die Reichweite der Unterrichtungspflicht aus Artikel 25 der Landesverfassung geklärt. Der Staatsgerichtshof hat festgestellt, dass es sich bei den streitgegenständlichen Corona-Verordnungen um solche handelte, die Gegenstände grundsätzlicher Bedeutung betrafen. Dieser Verfassungsartikel begründete deshalb die Pflicht der Landesregierung, den Landtag frühzeitig und vollständig über die Vorbereitung der jeweiligen Verordnung zu unterrichten. Dieser Verpflichtung war die Landesregierung in Bezug auf die streitgegenständlichen Verordnungen nicht nachgekommen.

Rundblick: Ist eine Lehre aus der Corona-Zeit, dass die Beschwerdemöglichkeiten der Bürger vor Gericht – etwa mit Blick auf eine niedersächsische Verfassungsbeschwerde – erweitert werden müssten?

Smollich: Die vergangenen eineinhalb Jahre haben zunächst einmal gezeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert. Sowohl der 13. Senat des Oberverwaltungsgerichts als auch die zuständigen Kammern an den Verwaltungsgerichten konnten auch aufgrund ihrer äußerst hohen Einsatzbereitschaft und Belastbarkeit effektiven Rechtschutz gewährleisten. Hierauf bin ich stolz. Die Entscheidungen zeigen zugleich auf, dass die niedersächsische Verwaltungsgerichtsbarkeit auch die Verhältnismäßigkeit der mit den Corona-Maßnahmen verbundenen Grundrechtseingriffe in den Blick genommen hat. Es wurden verschiedene Maßnahmen als rechtmäßig bestätigt, andere – beispielsweise die Ausgangssperre in der Region Hannover – aber auch als unverhältnismäßig eingestuft. Die Möglichkeit der Individualverfassungsbeschwerde vor dem Staatsgerichtshof würde gleichwohl eine Stärkung der Durchsetzung von Grundrechten bedeuten, für deren Einführung ich nach wie vor plädiere. Der Einzelne könnte die Einhaltung seiner Grundrechte vor dem höchsten Gericht des Landes klären lassen. Dies würde auch das Vertrauen in den Rechtsstaat weiter stärken.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #223.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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