Wie man heute noch die Wiedervereinigung feiern kann
Vor dem alten DDR-Wachturm an der Bundesstraße 79 hat sich eine riesige Menschenmenge gebildet. 300 Leute mögen es sein, und es werden immer mehr, sogar ein paar Reisebusse sind vorgefahren. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau – aber ein bitterkalter Wind pfeift über das Gelände. Doch der guten Stimmung tut das keinen Abbruch.
Der Wachturm wurde für diesen Tag mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne geschmückt, die Jagdhornbläser aus Wolfenbüttel sind gekommen – und vorn am Mikrophon steht ein hochgewachsener älterer Herr, einer der Organisatoren: Ernst Henning Jahn, ehemaliger Landrat und ehemaliger Landtagsvizepräsident, eröffnet die Feier zum 30. Jahrestag der Grenzöffnung hier zwischen Winnigstedt (West) und der Gemeinde Hessen (Ost). Jahn nennt es „eine Geburtstagsfeier“.
Die Ereignisse an diesem Tag, dem 12. November 2019, sind an diesem Ort schon bemerkenswert: An einem Nachmittag mitten in der Woche kommenden Hunderte in diese abgeschiedene dörfliche Gegend, um an ein weltgeschichtliches Ereignis vor 30 Jahre zu erinnern, das auch hier – wie in Berlin – seine symbolische Prägung bekam. Der Zaun wurde damals eingerissen, die jahrelang gegeneinander abgeschotteten Bürger von West und Ost trafen sich, umarmten sich, sie feierten und begannen sofort, umsichtig geleitet von damaligen ehrenamtlichen Landrat Jahn und seinem Oberkreisdirektor Ernst-Hartmut Koneffke, eine intensive Ost-West-Zusammenarbeit aufzubauen.
Das Ergebnis lässt sich heute hier besichtigen, zwischen den Vereinen in den Kreisen Wolfenbüttel und Halberstadt herrschen freundschaftliche Kontakte, es gibt eine enge Kooperation. Und man spürt diese Freude, die bei den Feiernden 30 Jahre später spürbar ist, die Freude über die Vereinigung. „Sie glauben gar nicht, was in diesem Augenblick in mir vorgeht“, sagt Jahn am Mikrophon zur Begrüßung. Die Wiedervereinigung von 1989/90 und die bis heute andauernde große Zufriedenheit in dieser Region seien „das wichtigste Ereignis in meinem Leben“, fügt der 80-Jährige hinzu.
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„Wir brauchen wieder den Aufbruch, den wir vor 30 Jahren in Deutschland erlebt haben“
In der Masse der Zuhörer, die sich hier treffen, wird viel über früher gesprochen. Über einen Jungen, der ein Gewitter und die damit verbundene Stromabschaltung an den Grenzanlagen nutzte, um in den Westen zu fliehen. Dort fühlte er sich Wochen später allein und wollte zurück nach Hause. Auf dem kurzen Dienstweg, ohne Einschaltung der Behörden, hatten die Wolfenbütteler ihn dann in die DDR zurückgebracht. Soetwas war, unterhalb der offiziellen scharfen Abgrenzung, durchaus möglich.
Oder die Schilderungen des früheren Landrats Jörg Röhmann, der als Kind in Grenznähe aufwuchs und immer aufschreckte, wenn ein über die Sperranlagen laufendes Reh in der Nacht die Scheinwerfer zum Erleuchten brachte. „Das war angsteinflößend“, sagt er. Viele sprechen vor allem über die emotionalen Begegnungen vor 30 Jahren, als der Stacheldraht endlich abgerissen wurde. Der SPD-Landtagsabgeordnete Marcus Bosse hat alte Fotos mitgebracht und sucht in der Menge nach Bekannten, die sich noch an die dort abgebildeten Ereignisse erinnern. Man tauscht sich aus, erzählt sich Anekdoten. Einer ist sogar, ganz passend, mit einem Trabi vorgefahren. Zum Abschluss stimmt Jahn die Nationalhymne an – und die meisten singen mit.
Mit Eurer Hilfe ist das gelungen, was wir mit unseren Protesten und Kerzen auf den Weg gebracht hatten.
Zuvor allerdings kommt noch die angereiste Prominenz zu Wort. Sachsen-Anhalts früherer Landtagspräsident Dieter Steinecke sagt, an die Wolfenbütteler gewandt: „Mit Eurer Hilfe ist das gelungen, was wir mit unseren Protesten und Kerzen auf den Weg gebracht hatten.“ Dieses Aufbauwerk dürften sich die Deutschen „jetzt nicht von den Ewiggestrigen kaputtreden lassen“. Niedersachsens ehemaliger Landtagspräsident beklagt sich über „das Genöle und Gemeckere“, räumt aber ein, dass sich die Vereinigung womöglich „zu sehr auf die Zahlen und zu wenig auf die Menschen konzentriert“ habe.
Als besonderer Gast ist der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) gekommen, mit dem der CDU-Mann Jahn seit langem eine enge Freundschaft verbindet. Die friedliche Revolution von 1989 könne den Menschen heute Kraft geben, wenn es darum geht, „nicht aufzugeben, sondern für eine bessere Gesellschaft zu arbeiten“. Für Gabriel ist das Land gegenwärtig „das beste Deutschland, das wir je hatten“. Die Westdeutschen müssten nur „mehr Respekt zeigen vor denen im Osten, die es eben schwerer hatten“. Gansäuer tritt nach Gabriels kurzer Rede am alten Wachturm noch einmal ans Mikrophon und sagt: „Mir wäre viel wohler, wenn Sigmar in Berlin noch dabei wäre“. Daraufhin Jahn: „Man darf dem Gansäuer nie das Wort geben, sonst nimmt er einem immer die Pointe weg.“ Applaus erklingt, die Zahl der Gabriel-Anhänger an diesem Ort ist offenbar sehr groß.
Warum kann uns die Freude vom November 1989 nicht immun machen gegen Hass und Europafeindlichkeit?
Die Reden an diesem zugigen Ort an der B79 sind eindrucksvoll, doch stärker noch ist der Auftritt von jemand anderem – dem Pastor Stephan Werther in der Kirche St. Johannes im sachsen-anhaltinischen Veltheim, zwei Kilometer vom Wachturm entfernt. Die Kirche ist voll, nebenan ist ein Festzelt aufgerichtet. Hier, auf der Ost-Seite, ist der zweite Teil dieser eindrucksvollen Einheitsfeier. Werther bedankt sich erst bei den Westdeutschen wie Jahn und Koneffke, die in den Wochen nach der Grenzöffnung „quasi überall gleichzeitig waren und geholfen haben“. Dann spricht er über das Wunder, weil doch eigentlich niemand damit gerechnet habe, das Politbüro mit den „spießigen alten Leuten“ würde einfach so abtreten. Eine „unterschwellige Angst vor der chinesischen Lösung“ habe lange geherrscht – auch noch nach der Grenzöffnung.
Pastor Werther war seit Anfang der achtziger Jahre in der DDR aktiv, hat oft kritische Predigten gehalten und bekam nachts zuweilen Drohanrufe, er solle „aufhören, das Volk aufzuwiegeln“. Noch heute, bekennt er, könne er „nicht ohne Beklemmung am Wachturm vorbeifahren“ – und umso glücklicher sei er, nun mit den Wolfenbüttelern in einem „Volk von Geschwistern“ zu leben. „Populistische Großmäuler“ stellten das heute in Frage – und ihm mache „nicht die Vielfalt in unserem Land Sorge, sondern die Einfalt“. Eine Botschaft fügt er noch eine Frage hinzu: „Warum kann uns die Freude vom November 1989 nicht immun machen gegen Hass und Europafeindlichkeit?“
Die Frage bleibt unbeantwortet – einige nachdenkliche Worte in einer sehr berührenden Geburtstagsfeier. Viele Menschen sind gekommen, auch viele „ältere weiße Männer“, die so oft gern in der Ecke der Meckerer und Frustrierten vermutet werden. Aber das ist ein Ort, an dem hier an diesem Tag keiner sein will. (kw)