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In der Masse der Zuhörer, die sich hier treffen, wird viel über früher gesprochen. Über einen Jungen, der ein Gewitter und die damit verbundene Stromabschaltung an den Grenzanlagen nutzte, um in den Westen zu fliehen. Dort fühlte er sich Wochen später allein und wollte zurück nach Hause. Auf dem kurzen Dienstweg, ohne Einschaltung der Behörden, hatten die Wolfenbütteler ihn dann in die DDR zurückgebracht. Soetwas war, unterhalb der offiziellen scharfen Abgrenzung, durchaus möglich.

Mit Eurer Hilfe ist das gelungen, was wir mit unseren Protesten und Kerzen auf den Weg gebracht hatten.
Zuvor allerdings kommt noch die angereiste Prominenz zu Wort. Sachsen-Anhalts früherer Landtagspräsident Dieter Steinecke sagt, an die Wolfenbütteler gewandt: „Mit Eurer Hilfe ist das gelungen, was wir mit unseren Protesten und Kerzen auf den Weg gebracht hatten.“ Dieses Aufbauwerk dürften sich die Deutschen „jetzt nicht von den Ewiggestrigen kaputtreden lassen“. Niedersachsens ehemaliger Landtagspräsident beklagt sich über „das Genöle und Gemeckere“, räumt aber ein, dass sich die Vereinigung womöglich „zu sehr auf die Zahlen und zu wenig auf die Menschen konzentriert“ habe.
Als besonderer Gast ist der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) gekommen, mit dem der CDU-Mann Jahn seit langem eine enge Freundschaft verbindet. Die friedliche Revolution von 1989 könne den Menschen heute Kraft geben, wenn es darum geht, „nicht aufzugeben, sondern für eine bessere Gesellschaft zu arbeiten“. Für Gabriel ist das Land gegenwärtig „das beste Deutschland, das wir je hatten“. Die Westdeutschen müssten nur „mehr Respekt zeigen vor denen im Osten, die es eben schwerer hatten“. Gansäuer tritt nach Gabriels kurzer Rede am alten Wachturm noch einmal ans Mikrophon und sagt: „Mir wäre viel wohler, wenn Sigmar in Berlin noch dabei wäre“. Daraufhin Jahn: „Man darf dem Gansäuer nie das Wort geben, sonst nimmt er einem immer die Pointe weg.“ Applaus erklingt, die Zahl der Gabriel-Anhänger an diesem Ort ist offenbar sehr groß.
Warum kann uns die Freude vom November 1989 nicht immun machen gegen Hass und Europafeindlichkeit?
Die Reden an diesem zugigen Ort an der B79 sind eindrucksvoll, doch stärker noch ist der Auftritt von jemand anderem – dem Pastor Stephan Werther in der Kirche St. Johannes im sachsen-anhaltinischen Veltheim, zwei Kilometer vom Wachturm entfernt. Die Kirche ist voll, nebenan ist ein Festzelt aufgerichtet. Hier, auf der Ost-Seite, ist der zweite Teil dieser eindrucksvollen Einheitsfeier. Werther bedankt sich erst bei den Westdeutschen wie Jahn und Koneffke, die in den Wochen nach der Grenzöffnung „quasi überall gleichzeitig waren und geholfen haben“. Dann spricht er über das Wunder, weil doch eigentlich niemand damit gerechnet habe, das Politbüro mit den „spießigen alten Leuten“ würde einfach so abtreten. Eine „unterschwellige Angst vor der chinesischen Lösung“ habe lange geherrscht – auch noch nach der Grenzöffnung.
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