Dienstagvormittag in Hannover, der niedersächsischen Landeshauptstadt. Der Sturm fegt durch die Straßen, der Regen peitscht gegen die Fenster, mitten im Frühling wirkt alles herbstlich. Nicht weit voneinander entfernt, sprechen fast gleichzeitig zwei unterschiedliche Gesprächskreise über die richtige Politik zur Eindämmung des Corona-Virus. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Julia Hamburg hat Kollegen aus anderen sechs anderen Grünen-Landesverbänden digital versammelt, sie hören gemeinsam Statements der Wissenschaftler von der No-Covid-Initiative. Einige Straßen weiter berät derweil Ministerpräsident Stephan Weil mit den Mitgliedern seines Kabinetts.
Ich sehe die Gefahr, dass die Geschwindigkeit der Öffnung größer ist als die der Impfung.
Während die Ministerrunde ein Konzept für Lockerungen diskutiert und beschließt, für mehr Präsenzunterricht in den Schulen und die behutsame Öffnung von Einzelhandel und Gaststätten, ertönt in der Gesprächsrunde der Grünen die eindeutige Warnung der Virologin Prof. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Institut in Braunschweig: „Ich sehe die Gefahr, dass die Geschwindigkeit der Öffnung größer ist als die der Impfung.“ Das sei wie „ein Tanz am Rande eines Vulkans“ – man könne ganz schnell das Gleichgewicht verlieren und in die glühende Lava stürzen.
Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beschreibt die diffuse Situation Anfang Mai 2021 in Niedersachsen. Da nun endlich ein Impffortschritt spürbar ist und die Hoffnungen auf einen baldigen Durchbruch des Frühlingswetters wachsen, organisiert die Politik den allmählichen Rückzug vom Lockdown. Das Bundeskabinett hat gestern Erleichterungen für Geimpfte beschlossen, die Landesregierung – vertreten durch Weil, Wirtschaftsminister Bernd Althusmann, Sozialministerin Daniela Behrens und Kultusminister Grant Hendrik Tonne – verkündet vor der Presse ebenfalls eine Reihe von Änderungen, die vom 10. Mai an gelten sollen: In den Landkreisen, die fünf Tage lang stabil unterhalb einer Inzidenz von 100 liegen, wird ein Einkaufsbummel in Bekleidungs-, Möbelgeschäften und Baumärkten wieder möglich.
Voraussetzung ist ein aktueller Corona-Test, für jeden Kunde müssen 20 Quadratmeter Verkaufsraum frei sein und Masken müssen getragen werden. Idealerweise soll das aktuelle Testergebnis über eine QR-Code gespeichert und als „Brücke zur Normalität“ dienen, sagt Althusmann. Auch die Außengastronomie soll so wieder zugänglich werden. Touristische Übernachtungen in Hotels und Ferienwohnungen sind in diesen Gebieten ebenfalls wieder erlaubt, zunächst aber zwei Wochen lang nur für „Landeskinder“, also Menschen mit Erstwohnsitz in Niedersachsen. Vom 3. Juli an, wenn die Sommerferien in NRW starten und viele Menschen von dort an die Nordseeküste streben, könnte das gelockert werden. Vorausgesetzt, das Virus hat dann seinen Rückzug angetreten.
Wenn die Schule jetzt wieder anfängt, dann soll sie nicht mit Druck starten, die Schüler sollen nicht überhäuft werden mit Prüfungen und Klausuren.
Eine Sonder-Regel soll es für Schulen und Kindergärten geben: Vom 10. Mai an gilt zunächst überall dort, wo eine Inzidenz von 165 nicht überschritten wird, das sogenannte „Wechselmodell“ oder „Szenario B“: Die eine Hälfte der Klasse bleibt im Homeschooling, die andere geht in die Schule, nach einem festgelegten Rhythmus wechseln sich beide dann ab. Regelmäßige Tests sind für Schüler jeden Morgen zuhause sowieso schon verpflichtend. Tonne sagt: „Wenn die Schule jetzt wieder anfängt, dann soll sie nicht mit Druck starten, die Schüler sollen nicht überhäuft werden mit Prüfungen und Klausuren. Viele Kinder machen sich Sorgen, wie die den Stoff wieder aufholen – wir werden das in den nächsten Schuljahren organisieren.“
Auch Niedersachsen wird also von der kommenden Woche an den Lockdown abschwächen – zumindest in den rund zwei Dritteln der 45 Kreise und kreisfreien Städte, in denen die Inzidenz unter 100 liegt. Alle Gebiete, in denen die 100 überschritten wird, richten sich nach dem Bundesrecht, und das lässt keine Lockerungen zu. Aber ist der jetzt von Weil, Althusmann und den anderen Ministern eingeschlagene Weg richtig? Die Hinweise, die von mehreren Wissenschaftlern bei der Anhörung der Grünen geäußert werden, wecken Zweifel an diesem Kurs. So vertreten die Anhänger der No-Covid-Strategie die Auffassung, dass es nicht bloß um eine Abschwächung oder Eindämmung des Virus gehen dürfe, sondern im Gegenteil um dessen richtige Ausrottung. Angemessen, meint Prof. Brinkmann, sei also neben der strikten Impfung auch die radikale Einschränkung der Kontakte.
Wir dürfen nicht lange diskutieren über den Sinn von Beschränkungen, da geht viel Zeit verloren. Entscheidend ist, schnell und konsequent zu handeln.
Das müsse nicht flächendeckend geschehen, sondern könne durchaus gezielt lokal organisiert werden, meint der Mobilitätsforscher Dirk Brockmann, der ebenfalls zur No-Covid-Gruppe zählt, und er nennt einen wichtigen Gesichtspunkt: „Wir dürfen nicht lange diskutieren über den Sinn von Beschränkungen, da geht viel Zeit verloren. Entscheidend ist, schnell und konsequent zu handeln.“ Als Beispiel nennt er die australische Stadt Melburne, die nach dem Auftreten weniger neuer Corona-Infektionen kurzfristig alle Siedlungen komplett für eine Woche abgeriegelt hatte.
Überhaupt hätten es manche Länder viel besser als wir hinbekommen, das Virus recht effektiv klein zu halten. Erwähnt werden Finnland, Australien und Neuseeland, aber auch Taiwan, Vietnam und China. War es hier die sprichwörtliche asiatische Disziplin, so war es dort die Konsequenz eines autoritären Staates – und dort die große Solidarität der Bevölkerung. Und was den Impffortschritt angeht, auch ein Indikator für erfolgreiche Corona-Politik, waren Israel, Großbritannien und die USA auch schneller und entschlossener als die Deutschen.
So fällt dann die Zwischenbilanz der No-Covid-Initiative zum deutschen Corona-Krisenmanagement nicht gerade freundlich aus. Prof. Brinkmann sagt: „In Deutschland gab es viele Todesfälle, eine hohe Krankheitslast – und trotzdem relativ harte Restriktionen. In Taiwan etwa waren die Einschränkungen nicht so rigoros, sondern zielgerichteter. Das Land ist besser durch die Krise gekommen.“ Woran genau hat es nun gelegen? Es dauere schlicht zu lange, wenn man erst vier oder fünf Tage nach Krankheitssymptomen ein Testergebnis bekomme – und sich in der Zwischenzeit normal bewegen könne, klagt der Allgemeinmediziner Markus Beier. Das Warten auf Laborergebnisse koste zu viel Zeit, außerdem hätte man bei der digitalen Nachverfolgung von Kontakten schon viel weiter sein können, ergänzt Ute Teichert vom Bundesverband der Ärzte im Gesundheitsdienst.
Und noch ein Problem besteht, wie der Immunologe Prof. Michael Meyer-Hermann vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum erläutert: Wenn man nun kräftig impfe und die britische Mutante B117 zurückdränge, drohe die – womöglich gefährlichere – brasilianische Variante des Virus mehr Raum einzunehmen. Und bisher sei fraglich, ob die bisherigen Impfungen auch gegen diese neue Form ausreichend Schutz böten. Trübe Aussichten also.

Auf die Frage, ob die Dunkelziffer der Virus-Verbreitung nicht viel zu hoch ist und die aktuell beschlossenen Lockerungen nicht viel zu riskant seien, gibt Ministerpräsident Weil in der Pressekonferenz gestern Mittag nur eine knappe Antwort: Die Corona-Tests, die künftig viel häufiger stattfänden und die den Zugang zu Gaststätten und Läden ebnen sollen, hätten einen „strategischen Nutzen“: Der Staat erfahre so viel mehr darüber, wie verbreitet das Virus tatsächlich ist. Und zur Not könne man dann rasch wieder die Lockerungen zurücknehmen. (kw)