Wer ist der klassische CDU-Anhänger? Diese Frage schwebt im Raum bei der diesjährigen Klausurtagung des Landesvorstands der niedersächsischen Christdemokraten. Als besonderer Gast ist aus Berlin der Generalsekretär Carsten Linnemann angereist, obwohl der gerade einen besonders vollen Terminkalender hat. Denn Anfang Mai ist der CDU-Bundesparteitag, dann soll über das neue Grundsatzprogramm der CDU entschieden werden. Die Parteiführung will das als Chance nutzen, die Christdemokraten stärker als bisher inhaltlich zu verorten. Und Linnemann, der munter, offen und mitreißend vor den CDU-Funktionären spricht, lässt an einer Botschaft keinen Zweifel: Das neue Programm wird vor allem die konservative Seite der Partei betonen.

So steht er nun im Tagungsraum des „Guts Altona“ in Dötlingen bei Wildeshausen, einer abgelegenen, ruhigen Seminarstätte, in die sich die CDU-Spitze zurückgezogen hat. Und es hagelt Themen, zu denen sich der Generalsekretär äußern soll: Sind die Grünen wirklich koalitionsfähig für die Union, wie es CDU-Chef Friedrich Merz kürzlich öffentlich erklärt hat? Sind die Europawahlen eine Chance, sich deutlicher als bisher von der AfD abzugrenzen? Wie bewertet er die Debatte über kulturelle Themen wie das Gendern, die vor allem von linken Politikern für ihre Selbstbestimmung genutzt wird?
Wer die Begriffe verwischt und ,rechts‘ mit ,rechtsextrem‘ in einen Topf wirft, der diskreditiert damit viele Konservative.
Carsten Linnemann, CDU-Generalsekretär
Und dann noch diese Frage: Wenn es „Demonstrationen gegen rechts“ gibt, an denen sich viele Anhänger der CDU beteiligen, soll man das unwidersprochen hinnehmen – oder soll man vielmehr darauf bestehen, dass es doch nur „Demonstrationen gegen Rechtsextremismus“ heißen darf, weil niemals jeder „Rechte“ gleich ein „Rechtsextremist“ ist? Linnemann gibt Auskunft auf seine Art – kurz, knapp und eindeutig. „Wer die Begriffe verwischt und ,rechts‘ mit ,rechtsextrem‘ in einen Topf wirft, der diskreditiert damit viele Konservative“, meint Linnemann. Trotzdem ist er dafür, dass die CDU sich an den derzeitigen Demonstrationen beteiligt – denn es gelte doch, Flagge für diesen Staat und gegen die völlig abstrusen Deportationspläne der Rechtsradikalen zu zeigen.
Viele in der CDU sind gewiss, dass die überwiegende Zahl ihrer Anhänger sich „Mitte-rechts“ einordnet und eben nicht links. Der Generalsekretär will die gesamte Breite der Strömungen zum Vorschein bringen. Wohl nicht zuletzt deshalb ist der Entwurf des Grundsatzprogramms, der über Linnemanns Tisch lief, mit klaren konservativen Positionen bestückt. Ganz oben steht da das christliche Menschenbild: Jeder Mensch ist gleich, für jeden gelten gleiche Maßstäbe. So schlägt die Programmkommission vor, dass die CDU sich für verpflichtende Sprachtests ausspricht. Jeder Vierjährige müsse eine Deutschprüfung ablegen. Besteht er sie, ist der Weg zur Einschulung vorgezeichnet, besteht er sie nicht, soll er verpflichtend die Vorschule besuchen müssen. „Das ist CDU pur“, sagt Linnemann. Kräfte der politischen Linken würden solche Vorgaben als Diskriminierung bezeichnen und Quoten für besonders benachteiligte Gruppen verlangen. Die CDU aber lehne solches „Schubladendenken“ strikt ab.
Der nächste Punkt sei die Technologieoffenheit. Der bedingungslose Ausstieg aus der Kernkraft sei der erste Fehler gewesen, das Verbot des Verbrennungsmotors der zweite. Als dritten Punkt nennt der CDU-Generalsekretär die Grundwerte von Solidarität und Subsidiarität. Das erste bezeichnet die Hilfe für die Schwachen, das zweite die Hilfe zur Selbsthilfe. Staatliche Unterstützung, sagt Linnemann, sollten nur diejenigen erhalten, die diese wirklich benötigen – etwa weil sie krank sind oder aus anderen wichtigen Gründen nicht arbeiten können. Das Bürgergeld dürfe aber nicht „mit der Gießkanne verteilt werden“ an Menschen, die eigentlich in der Lage sind, selbst zu arbeiten.

Gerade der letzte Punkt hat Weiterungen: Die CDU denkt darüber nach, ob nicht Rentner nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters bis zu 2000 Euro monatlich steuerfrei hinzuverdienen dürfen. Oder ob nicht großzügige Überstunden-Regeln eingeführt werden für bestimmte Branchen – mit der Folge, dass auf diese Überstunden dann keine Steuern mehr fällig werden. Der Leitsatz „Leistung muss sich wieder lohnen“ gehöre zur DNA der CDU, betont Linnemann, ebenso das klare Bekenntnis zur inneren Sicherheit – und die Aussage, dass man Sozialausgaben nur auf Bedürftige begrenze und darauf achte, dass der Staat möglichst mit seinen Einnahmen auskomme, ohne neue Schulden machen zu müssen.
Aber es geht dann noch weiter: In der Diskussion mit Linnemann melden sich mehrere CDU-Funktionäre zu Wort und haken nach: Soll man die AfD stärker als bisher stellen – oder soll man sie lieber ignorieren? Linnemann lässt keinen Zweifel, dass er sich eine schärfere Auseinandersetzung mit den Thesen der Rechtspopulisten wünscht, gerade im Vorfeld der Europawahl und gerade in der Weise, dass die CDU sich ohne Wenn und Aber zur Europäischen Einigung bekennt. David McAllister, niedersächsischer CDU-Spitzenkandidat, fordert ein engeres Verhältnis zu Frankreich und ein klares Signal zur Stärkung der deutsch-amerikanischen Freundschaft. Linnemann unterstützt das: „Deutschland muss unverrückbar an der Seite der USA stehen – egal, wer dort Präsident ist.“ Es gehe dann auch um die Sicherung des Nato-Beitrags von zwei Prozent des BIP und um notwendige Investitionen in die Bundeswehr.
Der frühere Landesvorsitzende Bernd Althusmann erklärt, dass die Lage Deutschlands besonders bitter werde, falls die Ukraine in diesem Jahr nicht den Angriffskrieg der Russen abwehren könne. „100 Milliarden Euro werden dann nicht reichen, um die Bundeswehr kriegstüchtig zu machen.“ Außerdem sieht Althusmann einen großen Mangel im Bildungsföderalismus – die enormen Herausforderungen von Schule und Ausbildung, so glaubt er mittlerweile, könnten von den Ländern allein nicht bewältigt werden. Andere wie Jens Nacke, Mike Schmidt, Jörn Schepelmann und Sophie Ramdor verweisen auf die Kommunen, die sich gegängelt fühlten von den zahlreichen bürokratischen Vorgaben. Hier könne die CDU als Kommunalpartei noch ein Zeichen setzen.

Debatten über solche und andere Fragen dürften in der CDU noch viel Zeit beanspruchen. Linnemann selbst schätzt, dass es vermutlich „bis zu 5000 Änderungsanträge“ zum Entwurf des Grundsatzprogramms geben wird. Einen davon hat Sebastian Lechner, Chef der Niedersachsen-CDU, dem Generalsekretär in Dötlingen schon mal angekündigt: Man erlebe derzeit in Deutschland „eine Förder-Aristokratie“, und entstanden sei diese mit der Corona-Krise. Der Bund gebe 44,5 Milliarden Euro aus für Förderprogramme, ohne dass die Bürokratie den Überblick über diese Vielfalt habe.
Nun könnten große Firmen es sich leisten, dieses Gewusel zu durchschauen und sich eine richtige Strategie zurechtzulegen. Sie könnten sich an den Angeboten gezielt bedienen. Kleinen und mittelständischen Firmen gelinge das aber nicht – und dieser Zustand müsse geändert werden. Allein in Niedersachsen gebe es 1000 staatliche Förderprogramme, aber nur 50 davon würden überhaupt richtig von den Behörden verstanden, da die anderen viel zu kompliziert seien oder immer nur von einzelnen angefragt würden. „Das muss sich ändern. Lieber soll man die Förderprogramme zusammenstreichen und das Geld den Bürgern über eine Steuerentlastung geben“, meint Lechner. Linnemann hat sich den Hinweis notiert, bevor er wieder aus Dötlingen abgereist ist.