Klimaneutral schon im Jahr 2030? Seit dem gescheiterten Volksentscheid im März in Berlin kehrt bei der Debatte um das Vorziehen der Klimaziele wieder etwas mehr Realismus und Ehrlichkeit ein. In Hamburg hat man sich solchen utopischen Vorstellungen noch nie hingegeben. Die Hansestadt hat sich bis zum Ende dieses Jahrzehnts das vergleichsweise bodenständige Ziel gesetzt, die CO2-Emissionen um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu verringern. Um da hinzukommen, müsste aber allein der Verkehrssektor der zweitgrößten deutschen Stadt seinen Treibhausgasausstoß um 1400 Tonnen pro Jahr reduzieren. „Das werden wir allein mit Elektrifizierung nicht hinbekommen, wir müssen die Anzahl der Ride-Sharing-Angebote massiv erhöhen“, sagt Tobias Brzoskowski, Geschäftsleiter von New Mobility Solutions (NMS). Das Tochterunternehmen der Hamburger Hochbahn AG ist für die digitale Mobilitätswende in der Hansestadt zuständig.

Selbst das bekannteste Ride-Sharing-Angebot der 1,9-Millionen-Einwohner-Stadt, die VW-Tochter Moia, trage derzeit kaum zu einer Entlastung des innerstädtischen Verkehrs bei. Die rund 500 Moia-Shuttles hätten vielleicht gerade mal das Passagierkommen, das die Hochbahnen zwischen 8.00 und 8.30 Uhr befördern, meint Brzoskowski und sieht nur einen Ausweg: vollelektrische Robotaxis in großer Stückzahl, die das Autoaufkommen in der Hansestadt massiv reduzieren.
Diese Fahrzeuge müssten aber möglichst schnell auf die Straße und in Serienproduktion kommen – und zwar noch vor dem Jahr 2035. „Wenn es später geschieht, dann haben wir ein massives Problem. Dann werden wir das Erreichen der Klimaziele kaum schaffen“, unkt der NMS-Geschäftsleiter bei der wissenschaftlichen Fachtagung „Autonomes Fahren und Stadtstruktur“ am Niedersächsischen Forschungszentrum Fahrzeugtechnik (NFF) während der „Mobility Days“ in Braunschweig.

Studien und Pilotprojekte bescheinigen dem autonomen Fahren schon jetzt eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Das machen gleich mehrere Experten der Fachtagung deutlich. Doch bis Fahrzeuge völlig selbstständig am Straßenverkehr teilnehmen können, sei es noch ein weiter Weg. „Die Systeme werden nur genutzt werden, wenn sie auch sicher sind“, sagt Sascha Meyne, Leiter der Arbeitsgruppe „Metrologie für vernetzte Mobilität“ bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt Braunschweig (PTB). Als oberste Instanz bei allen Fragen des richtigen und zuverlässigen Messens spielt das nationale Metrologieinstitut beim vollautomatisierten Fahren eine zentrale Rolle, denn schließlich kann die Künstliche Intelligenz in den Autos ihre Umgebung nur über vorher gemessene Daten wahrnehmen.
„Ein Sensor alleine wird es nicht richten können. Die Umgebung ist so komplex, dass einer alleine nicht ausreicht“, sagt Meyne. Kameras hätten das Problem, dass ihnen die Tiefeninformationen fehlen, um Entfernungen abzuschätzen. Außerdem seien sie bei Nebel und schlechten Sichtbedingungen teilweise noch unzuverlässiger als das menschliche Auge. Beim dreidimensionalen Laserscanning (Lidar) sind die Lichtverhältnisse zwar nebensächlich. Dafür hat die optische Abstandsmessung andere Schwächen. „Einen Fußgänger in einem Lidar-Bild zu erkennen, ist sehr schwierig“, weiß der promovierte Hochfrequenztechniker. Und auch ein Radar liefert nicht immer belastbare Informationen, weil er zum Beispiel eine Chipstüte aufgrund ihrer ultradünnen Aluminiumschicht als ein unüberwindbares, metallenes Hindernis wahrnimmt. Für die Mess-Experten der PTB stellt sich dabei ein zentrales Problem: „Wie wirken sich Unsicherheiten in den Sensordaten auf das System aus? Bis zu welchem Punkt kann ich den Daten vertrauen?“, fragt Meyne.

Um diese Fragen zu beantworten, plant die PTB in Braunschweig ein neues Forschungszentrum namens „TI-Car“ (Technology and Innovation Center for Automotive Research). „Das TI-Car wäre eine Forschungseinrichtung, die in dieser Form weltweit einmalig ist“, sagt Meyne. Kernstück der Anlage soll eine vierspurige „urbane Wetterkreuzung“ in einer Halle sein, in der die Fahrzeuge das ganze Jahr über unter allen gewünschten Wetter- und Lichtverhältnissen fahren können. „Wir wollen die Fahrzeuge unter möglichst innerstädtischen Bedingungen testen können. 60 Stundenkilometer werden dort problemlos fahrbar sein“, sagt der PTB-Wissenschaftler und sieht gerade hier einen noch ziemlich blinden Fleck in der praxisnahen Forschung. Zwar würden sich schon viele autonome Fahrzeuge im Testbetrieb befinden, selten aber bei Tempo 50 oder mehr.
Darüber hinaus sollen auf der neuen Braunschweiger Testkreuzung neben Autos auch andere Verkehrsteilnehmer wie etwa „Passanten“ auftauchen, die über eine mobile Roboterplattform gesteuert werden. In der 230 mal 130 Meter großen Halle sind zudem ein Sensorprüfstand im Tunnel und ein sogenannter Vehicle-in-the-Loop-Prüfstand geplant. „Das müssen Sie sich vorstellen wie ein Autokino – nur das nicht der Fahrer den Film sieht, sondern das Auto selbst“, erklärt Meyne die virtuelle Fahrsimulation mit Rollenprüfstand. Dass Wetter- und Lichtverhältnisse beliebig angepasst werden können, beschreibt der Mess-Experte als größten Vorteil des geplanten Forschungszentrums. „Die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse steht immer an oberster Stelle“, betont Meyne.

Als Standort für das neue Forschungszentrum kommt für die PTB eigentlich nur Braunschweig infrage, weil hier die Standortbedingungen äußerst günstig sind. „Hier gibt es eine tolle Forschungslandschaft und wir werden auch von der Stadt gut unterstützt“, sagt PTB-Präsidentin Prof. Cornelia Denz und betont: „Dieses Zentrum ist etwas, das noch fehlt, um dem autonomen Fahren ein Qualitätssiegel zu geben und das Vertrauen in die Technologie herzustellen.“ Das Ziel der deutschen Messtechnik-Chefin ist es, dass die Zuversicht in selbstfahrende Fahrzeuge ähnlich groß ist wie in die Waage im Supermarkt oder in die richtige Uhrzeit.
Dass eine solche Forschungseinrichtung nötig ist, glaubt auch Prof. Michael Ortgiese, der kommissarische Direktor des Instituts für Verkehrssystemtechnik beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). „Simulatoren werden eine ganz wichtige Rolle dabei spielen, um in die Flächendeckung zu kommen“, sagt der Experte für Verkehrs- und Mobilitätsmanagement. Ortgiese geht davon aus, dass es in den kommenden Jahren viele kleine Fortschritte beim autonomen Fahren geben wird. „Es wird ein kontinuierlicher Prozess sein, in dem wir immer mehr Strecken und mehr Funktionen erschließen“, prophezeit er und sieht auch großen Handlungsbedarf bei der Infrastruktur: „Es ist nicht nur eine Frage des Fahrzeugs, sondern auch des Gesamtsystems – und da muss man ganz schnell ran. Da gibt es auch Schritte, die man innerhalb eines Jahres umsetzen kann.“

Der Bau von „TI-Car“ steht allerdings vor einer großen Hürde: Die Finanzierung für den voraussichtlich mindestens 100 Millionen Euro teuren Wissenschaftsbau ist noch unklar. Der Bundesanstalt schwebt eine Mischfinanzierung vor, bei der sich der Bund und das Land Niedersachsen die Kosten untereinander aufteilen. Sofern es den Regierungen in Hannover und Berlin bei der Forschungsförderung fürs autonome Fahren ernst ist, muss die Kostenfrage so schnell wie möglich geklärt werden. „Wenn heute das Geld da wäre, würde es voraussichtlich vier bis fünf Jahre dauern, bis wir den Teilbetrieb aufnehmen können“, lautet Meynes eher konservative Prognose. Sofern die vielzitierte „Deutschlandgeschwindigkeit“ aber demnächst für den Wissenschaftsbereich gilt, könnte sich die Zeit bis zur Inbetriebnahme auch deutlich verkürzen.

Unabhängig davon, ob der Bau des „TI-Car“-Forschungszentrums gelingt, will man in Braunschweig die Erforschung und Erprobung des autonomen Fahrens weiter vorantreiben. „Es ist eine Menge geplant. Es soll auch einen öffentlichen Testbetrieb geben und das Testfeld in der Stadt ist auch schon identifiziert“, sagt Oberbürgermeister Thorsten Kornblum (SPD). Ab 2028, so hofft das Stadtoberhaupt, soll bereits ein autonomer Busverkehr vom Bahnhof zum Forschungsflughafen möglich sein. Allerdings fehlt es auch hier noch am Geld. „Wir brauchen noch einen OEM, der das Ganze mitfinanziert“, verrät Kornblum. Dass der Oberbürgermeister hier nicht etwa von einem Unternehmen, sondern gleich von einem „OEM“ (Originalteilehersteller) spricht, könnte man durchaus als Einladung an den Volkswagen-Konzern verstehen, der über seine Software-Schmiede derzeit die Entwicklung von Level-3-Fahrfunktionen vorantreibt – ein Schritt, den Mercedes mit seinem „Drive Pilot“ bereits erfolgreich absolviert hat und damit weltweit führend ist.
Beim Automatisierungslevel 3 gibt der Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug komplett ab, weshalb das Nutzungsfenster derzeit sehr begrenzt ist: Das System ist nur auf Autobahnen bei bis zu 60 Stundenkilometern, bei Tageslicht, ohne Spurwechsel sowie nicht in Tunneln oder in Baustellen erlaubt. Grund dafür ist vor allem die Tatsache, dass beim automatisierten Fahren die Haftung zwar grundsätzlich weiterhin beim Halter verbleibt, der aber wiederum den Hersteller über die Produkthaftung zur Verantwortung ziehen kann.
