Deutschland verwaltet sich kaputt. Die Republik versinkt in Papierkram. Wohin man auch geht und mit wem man auch spricht: Alle Branchen und Professionen klagen über ein Zuviel an Bürokratie. Wo können Dokumentationspflichten eingespart werden? Welches Formular gehört dringend abgeschafft? Und was ist am Ende vielleicht doch sinnvoll? Eine Rundblick-Serie zum Bürokratieabbau. Teil 1: Die Pflege.
Gerade war es wieder so weit: Zweimal im Jahr müssen über ein Online-Portal Daten zu jedem Bewohner an eine Clearingstelle des Medizinischen Dienstes übermittelt werden. Als Pflegedienstleiterin ist Martina Berning für derzeit 148 Bewohner des Diakovere-Altenzentrums Kirchrode in Hannover zuständig. Das heißt, 148 Mal müssen jeweils in zehn Modulen Angaben gemacht werden: Werden die religiösen Bedürfnisse des Bewohners erfüllt? Wird dem Dekubitus vorgebeugt? Hat er Schmerzen? Wenn nicht alles nach Plan läuft, zeigt die Software ein Plausibilitätsproblem mit einem kleinen Warndreieck an. Zum Beispiel, wenn jemand starke Medikamente bekommt und immer noch Schmerzen hat. Das bedarf dann einer Überarbeitung oder Korrektur in der Software, erklärt Martina Berning. „Das Dreieck kommt aber auch, wenn ich einen Punkt vergessen habe.“
Die Überprüfung durch den Medizinischen Dienst ist längst nicht die einzige, die Pflegeeinrichtungen ins Haus steht: Einmal jährlich kommt die Heimaufsicht. Auch die Gewerbeaufsicht und das Gesundheitsamt führen Kontrollen durch. Regelmäßig werden alle technischen Einrichtungen vom Pflegebett bis zur Notrufklingel überprüft, die Hygiene in der Küche und der Arbeitsschutz für die Mitarbeiter. Jede Prüfung kostet sie ein bis zwei Tage. „Jeder kommt mit einem guten Ratschlag“, sagt die langjährige Pflegefachkraft. „Dabei kennen wir unsere Probleme selber. Aber auch wenn wir wissen, wo der Schuh drückt, können wir ihn nicht sofort weiten.“

Wir sitzen im Souterrain eines der vielen Gebäude, die seit 1873 auf dem weitläufigen Gelände entstanden sind. Wo bei alten Gebäuden der Schuh drückt, kann man sich leicht vorstellen. „Weil das Altenzentrum in drei Häusern untergebracht ist, wird jedes einzeln geprüft“, berichtet Martina Berning. Im Büro nebenan sitzt ihre Stellvertreterin Yvonne Šabović-Dunsing, schreibt Dienstpläne und hört dabei zu. Ab und zu mischt sie sich ins Gespräch ein. Das Telefon klingelt. Offenbar möchte jemand, dass die Pflegedienstleiterin sich eine Bewerbung anschaut. „Wozu denn?“, gibt Berning zurück. „Ich brauche nur Fachkräfte!“ Bewerbungen, Angebote von Zeitarbeitsfirmen und Anfragen nach Ausbildungsplätzen aus dem Nicht-EU-Ausland machen einen großen Teil ihres Maileingangs aus, berichtet sie. Doch einen großen Teil davon kann sie nicht gebrauchen. „QN1 kann ich gar nicht einstellen“, erklärt Berning.
„QN1“ steht für das unterste Qualifikationsniveau, also ohne Ausbildung. Auf diesem Level haben manche Hilfskräfte jahrelang im Altenzentrum gearbeitet. Nach der heutigen Rechtslage müssen diese Kräfte alle nachqualifiziert werden. 200 Unterrichtsstunden in fünf Modulen sind zu absolvieren, um ein Zertifikat für QN2 zu erwerben. Zum Glück hat der Träger Diakovere eine eigene Fachakademie. Doch auch innerhalb der eigenen Organisation gilt es, Anträge auszufüllen, nach freien Plätzen zu suchen, den Unterricht mit den Dienstplänen abzugleichen. Um sich Pflegeassistenzkraft nennen zu dürfen, ist in Niedersachsen eine in der Regel zweijährige Ausbildung erforderlich. Dies entspricht QN3. „Trotzdem sieht die Heimaufsicht diese Kollegen nicht als Fachkräfte an“, kritisiert Berning. „Das ist nicht stimmig mit der Politik.“ Politisch gibt es das Bemühen, den Fachkräftemangel zu lindern und unterschiedliche Zugangswege zu den Pflegeberufen zu öffnen. Doch das nützt den Einrichtungen wenig, wenn die Heimaufsicht verlangt, dass die Hälfte der Beschäftigten QN4 vorweisen muss, also eine dreijährige Ausbildung.

„Grundsätzlich ist Fortbildung ja positiv“, ist Martina Berning überzeugt. In ihrem Beruf lerne man täglich etwas Neues. Vieles, was zu Beginn ihrer Karriere gegolten habe, sei längst überholt. Doch trotzdem müsse die Fachkraftquote heruntergeschraubt werden, fordert sie, damit die Einrichtungen überleben können. In Hamburg mussten erst einige Häuser wegen Personalmangels schließen, berichtet sie, bevor die Fachkraftquote gesenkt wurde. In Niedersachsen ist man diesem Beispiel nicht gefolgt.
Naheliegend in einer solchen Situation ist, Nachwuchs- und Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben. Doch hier lauern neue bürokratische Hürden. Anträge auf Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis bleiben auch deswegen lange liegen, weil in den Ausländerbehörden Personal fehlt. Einigermaßen reibungslos, so Bernings Erfahrung, lassen sich ausländische Nachwuchskräfte integrieren, wenn sie mit einem Bundesfreiwilligendienst starten, dann in eine Ausbildung wechseln und schließlich einen Arbeitsvertrag erhalten. Ein langer Weg, der nicht zu jeder Lebenssituation passt. Viele Kollegen bringen schon einen Berufsabschluss aus Marokko, aus der Türkei oder aus Kroatien mit, doch der wird in Deutschland nicht anerkannt. Martina Berning versteht das nicht: „Im Ausland ist das Equipment vielleicht ein anderes, aber die Tätigkeiten sind die gleichen.“ Das Equipment habe sich seit ihrer Ausbildung schließlich auch verändert. Einen Mitarbeiter hat sie kürzlich verloren. Der Mann ist nach Bosnien zurückgekehrt, weil er dort seiner Qualifikation entsprechend arbeiten kann. Für die, die bleiben wollen, gilt, dass sie sich zehn Monate lang nachqualifizieren müssen. Dabei würde es genügen, meint Berning, die Fachkenntnisse durch eine Prüfung nachzuweisen.
Deutlich wird: Die Flexibilität, die Bewerber in Zeiten des Fachkräftemangels von Arbeitgebern erwarten, ist hier kaum gegeben. Sich auf eine Stelle bewerben, auch wenn man nicht alle Qualifikationen aus der Ausschreibung mitbringt? Keine Chance. Das gleiche gilt beim Gehalt: „Wenn ich jemanden gerne hätte, der 100 Euro mehr will als tariflich vorgesehen, kann ich ihm nicht entgegenkommen“, bedauert Berning. Oder bei den Arbeitszeiten, wirft Yvonne Šabović-Dunsing von nebenan ein: Während der Corona-Pandemie war es plötzlich möglich, die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden zu erhöhen. Gerne würde die Pflegedienstleitung noch weiter mit neuen Arbeitszeitmodellen experimentieren, mit 12-Stunden-Schichten und dafür mehreren, verlässlich freien Tagen am Stück. „Wir sind zwischen allen Vorschriften eingeklemmt“, seufzt Šabović-Dunsing.

Die Arbeitszeiterfassung ist seit einiger Zeit mit dem digitalen Dienstplan gekoppelt. Eigentlich toll, meint Martina Berning, aber: „Alles, was digitalisiert ist, bedeutet für die Leitung zusätzliche Arbeit.“ Für jeden Mitarbeiter muss die Wohnbereichsleitung im System bestätigen, wann er gekommen und gegangen ist. Wenn das gerade nicht möglich ist, muss es die Pflegedienstleitung selbst machen. Wieder sieht sich das Team zwischen Vorschriften gefangen: Dass die Arbeitszeit erfasst werden muss, sei nun mal EU-Recht. Bürokratie, auch das wird im Gespräch deutlich, entsteht aber nicht nur durch Behörden und Gesetze. Manchmal sind es auch die eigene Organisation oder andere Unternehmen, die Nachweise, Anträge, Pläne verlangen. Zum Beispiel können die Inkontinenzvorlagen nicht einfach paketweise bestellt werden. Die Software des Lieferanten verlangt, für jeden Bewohner einzeln einzugeben, zu welchen Tageszeiten er welches Hilfsmittel benötigt. Wenn man sich vertut und nachbestellen muss, kostet das extra. „Es gibt überall so ein Sicherheitsbedürfnis. Wenig funktioniert auf Vertrauensbasis“, resümiert Yvonne Šabović-Dunsing.
Dabei, meint Martina Berning, kann Bürokratie auch sinnvoll sein: Wenn sie für Gleichheit und Fairness sorgt. Wenn sie Verlässlichkeit für Bewohner und Kollegen schafft. „Die Pflegedokumentation“, seufzt sie, „wird sich sowieso nie ändern.“ Aber: „Diese überbordenden Prüfungen sind sofort verzichtbar.“ Die Prüfer, überlegt sie, waren selbst mal Fachkräfte in der Altenpflege. „Wenn alle Prüfer in die Praxis zurückgehen würden, hätten wir nicht so einen enormen Pflegenotstand.“