Die Rahmenbedingungen, sagt Thorsten Kornblum, könnten nicht besser sein, sie seien fast ideal. In seiner Stadt befindet sich ein Krankenhaus mit 1500 Betten und jährlich 50.000 stationären Patienten, sowie 200.000 ambulanten. „Das ist so groß wie die MHH“, sagt der Braunschweiger Oberbürgermeister. Fast alle Chefärzte dort seien habilitiert, die ganze Bandbreite der medizinischen Versorgung werde geboten. Die Uni liegt nicht weit davon entfernt, und mit dem Fraunhofer-Institut und dem in der Corona-Zeit populär gewordenen Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung sind vor Ort zwei renommierte Forschungseinrichtungen. Aber trotzdem habe es die zweitgrößte Stadt Niedersachsens bisher noch nicht geschafft, Standort eines Uni-Klinikums zu werden.

„Die nächste Landesregierung sollte hier aktiv werden und sich zu der notwendigen Investition entscheiden“, betont Kornblum. Unterstützung in dieser Position bekommt er vom niedersächsischen Landesverband des Marburger Bundes (MB), der Interessensvertretung von Ärzten. Der Vize-Vorsitzende Andreas Hammerschmidt sagt: „Die Voraussetzungen sind in Braunschweig großartig. Das Land hatte bisher nur nicht den Mut, sich in ein gemachtes Nest zu setzen.“
Immer mehr Befürworter eines „vierten niedersächsischen Medizincampus“ treten nun deutlicher auf – und das dürfte auch an der Erkenntnis liegen, dass das Problem des Ärztemangels immer drastischer wird. Hammerschmidt nennt Zahlen: In Niedersachsen liege die Zahl der Medizinstudienplätze pro Einwohner bei 1 zu 10.500, in Baden-Württemberg aber bei etwa 1 zu 6500. Jährlich würden 1000 Ärzte in den Ruhestand gehen, aber nur 500 neu ihren Beruf beginnen – und das in einer Zeit, in der die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen immer mehr steige. In Niedersachsen gibt es derzeit 789 Studienplätze für Medizin, davon 320 bei der MHH in Hannover, 349 bei der Universitätsmedizin in Göttingen (UMG) und 120 am dritten Standort in Oldenburg, der „European Medical School“ (EMS). Von einer Abbrecherquote bis zu 30 Prozent geht man aus.

Was den dritten Standort in Oldenburg angeht, sind einige Probleme evident – die Stadt musste und muss weiterhin selbst viel Geld beisteuern, da die drei dortigen Krankenhäuser noch in kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft sind, nicht in Landesobhut wie die MHH oder die UMG. Es wird eine Vernetzung mit Groningen in den Niederlanden angepeilt, deshalb hat das EMS-Projekt einen europäischen Charakter. Nun ist es so, dass viele Akteure in Oldenburg kritisch nach Braunschweig blicken, falls dort nun ein vierter Medizin-Campus errichtet werden soll – da ja der dritte in Oldenburg noch gar nicht richtig etabliert sei und erst Schritt für Schritt aufgebaut werde. Gegenwärtig gibt es Ärger in Oldenburg, weil Personal und Mittel fehlen. 484 Mitarbeiter des Oldenburger Klinikums haben in einem offenen Brief erklärt, dass die gegenwärtigen Zustände keine angemessene Bedingung für wissenschaftliches Arbeiten sein können.
Soll man in einer solchen Zeit nun noch einen weiteren Standort, Braunschweig, ins Visier nehmen? Kornblum und Hammerschmidt kennen diese Vorbehalte, lassen sich dadurch aber nicht bremsen. Das regionale Argument der Unterversorgung im Nordwesten, das die Oldenburger hervorheben, sei natürlich richtig. Aber von einer Ballung der Mediziner-Ausbildung in Ost- und Süd-Niedersachsen könne man nun nicht reden. Die Region Braunschweig, die Gifhorn, Salzgitter, Helmstedt, Goslar, Wolfenbüttel, Wolfsburg und Peine einbeziehe, zähle bis zu 1,2 Millionen Menschen, sei also ein eigener Ballungsraum für sich. Daher sei die Landes-Investition für einen neuen Standort eines Uni-Krankenhauses auch lohnenswert.
Die Rechnung der Befürworter sieht so aus: Ein Medizin-Studienplatz koste durchschnittlich 250.000 Euro – da seien Personal, Technik und Bauaufwendungen mit eingeschlossen. Wenn man 200 solcher Plätze schaffe, sind das Aufwendungen von 50 Millionen Euro. Ob solche Investitionen schon ausreichen würden oder zu knapp geschätzt sind, sei einmal dahingestellt. Kornblum sagt auch, dass dies nun zunächst seine Position sei, wenn es auf dem Weg zu einem solchen Ziel Zwischenschritte geben solle, müsse man wohl darüber reden. Viele Vorzüge habe das Fernziel einer Uni-Medizin in Braunschweig aber, so könne man beispielsweise die Medizinerausbildung mit den Lehrangeboten in der MHH verbinden, die Achse eines Verbundes MHH-Klinikum Braunschweig könne außerdem der Metropolregion neuen Schub geben.
Was die „Zwischenlösungen“ angeht, wird zuweilen auf ein umstrittenes Beispiel hingewiesen: In dem Bemühen, den Mangel an Ausbildungskapazitäten wett zu machen, hat die UMG jüngst die Zahl der vorklinischen Studienplätze angehoben – also vor allem Plätze für die theoretische Ausbildung. Gleichzeitig kooperiert die UMG mit dem Wolfsburger Krankenhaus, wo die angehenden Ärzte dann den praktischen Teil ihrer Tätigkeit lernen können. Das heißt, die Studenten müssen pendeln zwischen Göttingen und Wolfsburg. Hammerschmidt vom Marburger Bund hält das nicht für ein nachahmenswertes Modell, denn es gehe viel Zeit und Kraft verloren, wenn die Medizin-Studenten für das Absolvieren ihrer Ausbildung an mehrere unterschiedliche Orte reisen müssen. Besonders ausgeprägt sei das im Ruhrgebiet, wo sich die Studienangebote über vier oder fünf Städte erstreckten. „Viel besser wäre es, die Synergieeffekte zu nutzen, und das ist in Braunschweig auch wegen der Nähe zur Universität mit ihren hervorragenden Lehrmöglichkeiten sehr gut möglich“, betont der MB-Sprecher.

Der Braunschweiger OB und der Repräsentant des Marburger Bundes sind nun dafür, mehr und mehr Unterstützer für ihren Vorstoß zu finden. Die SPD-Abgeordneten aus der Region Braunschweig haben sich schon mit einem ähnlichen Vorstoß vorgewagt, und zahlreich sind auch die Stimmen von Ärztekammer oder Kassenärztlicher Vereinigung, die ebenfalls in diese Richtung argumentieren. Es gibt auch einzelne abweichende Positionen wie die des hannoverschen MHH-Professors Nils Schneider. Er erklärte gegenüber dem Politikjournal Rundblick, der Ruf nach mehr Ärzten sei ein „verständlicher Reflex“, führe aber am Kernproblem vorbei: Unter anderem wegen der Aufteilung in stationäre und ambulante Versorgung gebe es zu viele Doppelstrukturen in Arztpraxen und Kliniken, außerdem zu viele Fachärzte und zu wenig Hausärzte. Aber im Konzert der gesundheitspolitischen Stimmen bleiben Positionen wie die von Prof. Schneider eher eine Ausnahme.
Kornblum pocht unterdessen auch auf eine finanzpolitische Kehrtwende: Während die geplanten Investitionen für MHH und UMG gegenwärtig von einem Sondervermögen des Landes bedient würden, das mit Milliardenbeträgen gefüllt ist, müsse sich das Klinikum in Braunschweig um Geld aus einem Topf bemühen, aus dem auch 167 andere Krankenhäuser im Lande, teilweise sehr kleine, finanziert werden. Dieser Topf enthalte derzeit gerade mal 150 Millionen Euro, viel zu wenig angesichts der notwendigen Investitionen. „Das ist kaum verständlich und den tatsächlichen Verhältnissen nicht mehr angemessen“, betont der OB aus Braunschweig.