9. Dez. 2020 · 
Kommentar

Brauchen wir einen harten „Lockdown“ – und zwar einheitlich in Deutschland?

Die Hoffnungen zerschlagen sich: Trotz der verschärften Kontaktbeschränkungen, auf die sich Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten verständigt haben, gehen die Corona-Neuinfektionen nicht in dem erhofften Maß zurück. Woran liegt das? Die Wissenschaftler und die Politiker sind ratlos, sie meinen allerdings, dass nur eine radikale Drosselung aller Treffen die Ansteckungsgefahr verringern kann. Sollte das bundesweit geschehen? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra. [caption id="attachment_55821" align="alignnone" width="780"] Foto: DQM; MicroStockHub[/caption]

PRO: Mehr denn je zuvor ist bei den Corona-Beschränkungen derzeit Psychologie im Spiel. Das einzige, was wirken kann, ist eine einfache, harte und klar verständliche Linie – auch dann, wenn diese in einigen Regionen mit geringen Inzidenzen rein sachlich kaum zu rechtfertigen wäre, meint Klaus Wallbaum.

Im Frühjahr, als das Virus noch absolut unbekannt und unerforscht war, herrschte allgemein eine große Besorgnis in Deutschland. Die Menschen hielten sich an die Kontaktbeschränkungen, sie akzeptierten die Schließung des Einzelhandels, sie nahmen es hin, dass ihre Kinder nicht mehr in die Kindergärten und Schulen gehen konnten. Würde es heute ähnlich sein, wenn die Regierungen erneut einen „harten Lockdown“ verfügten? Vermutlich nicht.
Es sterben jeden Tag mehr Menschen, bei denen eine Covid19-Erkrankung festgestellt wurde.
Zeitzeugen beobachten völlig richtig, dass heute im Unterschied zum Frühjahr die Angst verschwunden ist. Das an sich ist eine gute Nachricht, denn Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Wenn aber gleich auch noch die Besorgnis verloren geht, ist das wieder nicht gut. Die Zahl der Menschen, die im Krankenhaus sterben und bei denen eine Infektion mit dem Corona-Virus nachgewiesen wurde, steigt derweil kontinuierlich an. Es scheint so zu sein, dass sich das Virus Zug um Zug ausbreitet. Was nachvollziehbar kommuniziert wird, ist eine unbestreitbare Tatsache: Dieses Virus ist weniger tödlich als zunächst vermutet, viele Menschen erkranken daran und überstehen alles dennoch gut. Was weitaus seltener kommuniziert wird, ist die andere Seite der Dinge: Es sterben jeden Tag mehr Menschen, bei denen eine Covid19-Erkrankung festgestellt wurde. Die Überlastung der Kliniken ist nach wie vor eine reale Gefahr – zumindest in Sachsen und Bayern, wo die Inzidenzen einen bedrohlich hohen Wert erreicht haben.
Wenn das Virus tatsächlich so gefährlich ist, wie immer behauptet wird, warum lässt man dann Ausnahmen über Weihnachten zu?
Was soll man also tun? Der Hauptgegner ist das Virus, der zweite Hauptgegner ist derzeit eine verbreitete Haltung der Bevölkerung, mit Corona-Neuigkeiten übersättigt zu sein und deshalb nichts mehr davon hören zu wollen. Sie geht einher mit einer wachsenden Sorglosigkeit oder der fatalistischen Ansicht, man dürfe sich das Leben ja nicht von allerhand Verboten bestimmen lassen. In Wahrheit ist diese Position höchst egoistisch. Politiker sollten in solchen Situationen wissen, dass es schwieriger wird, die Menschen mit ihren Botschaften zu erreichen. Das Verständnis dafür fehlt bei einer großen Gruppe von Menschen zum einen deshalb, weil sie keine Furcht mehr haben. Eine nächste Gruppe dürfte sich weigern, Auflagen zu akzeptieren, weil diese nicht klar und nachvollziehbar klingen. Die Ausnahmevorschriften für die Weihnachtsfeiertage etwa mögen gut gemeint gewesen sein, da sie dem Bedürfnis nach Familientreffen nachkommen wollten – aber sie sind auch wieder angreifbar. Wenn das Virus tatsächlich so gefährlich ist, wie immer behauptet wird, warum lässt man dann Ausnahmen über Weihnachten zu? Müsste man dann nicht von vornherein von diesem Gedanken Abstand nehmen?
Wenn die Lage wirklich ernst ist, dann sind Konsequenz und Härte angezeigt, dann muss das öffentliche Leben bundesweit gleichmäßig heruntergefahren werden.
Genauso ist es mit der lange Zeit gehegten und gepflegten Vorstellung, man müsse regional begrenzt auf das Virus reagieren – also dort härtere Maßnahmen durchsetzen, wo die Zahl der Inzidenzen hoch ist, während das gleichzeitig dort nicht nötig wäre, wo die Werte sehr niedrig bleiben. In der Konsequenz hieße das, tatsächlich in einigen bayerischen Landkreisen und in fast ganz Sachsen eine Ausgangssperre zu verhängen, in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern aber eher über Lockerungen nachzudenken. Diese Logik ist bisher die Grundlage der Beschlüsse von Ministerpräsidenten und Kanzlerin, wobei einschränkend gilt, dass die Weihnachts-Lockerungen schon der Überlegung folgten, doch mehr bundesweite Einheitlichkeit zu erreichen. Es gibt einen wichtigen Grund, der gegen regionale Differenzierungen in der gegenwärtigen Situation spricht: Jede weitere Verschärfung, die nur mit dem Argument einer drohenden Überlastung des deutschen Gesundheitswesens begründet werden kann, muss eindringlich und überzeugend klingen. Dann kann es nicht angehen, beispielsweise in Sachsen-Anhalt den Einzelhandel zu schließen und nebenan in Niedersachsen, wo die Zahlen noch niedrig sind, die Geschäfte offen zu lassen. Dies unterschätzt zum einen den innerdeutschen „Grenzverkehr“ und die Neigung vieler Menschen, in die Bereiche auszuweichen, die vergleichsweise mehr Freiräume lassen. Noch wichtiger ist aber ein anderer Grund: Wenn die Lage wirklich ernst ist, dann sind Konsequenz und Härte angezeigt, dann muss das öffentliche Leben bundesweit gleichmäßig heruntergefahren werden. Immerhin steht das große, überwölbende Ziel im Raum – die Kontakte müssen begrenzt werden. Dass das in dem einen Bundesland mehr und in dem anderen weniger angesagt ist, erscheint dabei wie eine kleinliche Randbetrachtung. Ein schwerer Schlag für die Wirtschaft wäre das schon, sicher, aber auf der anderen Seite wäre ein „Herunterfahren“ des öffentlichen Lebens über Weihnachten bis beispielsweise zum 10. Januar durchaus verkraftbar. Wann, wenn nicht in dieser ruhigen Phase von Jahreswechsel und Jahresbeginn, könnte man einen solchen Schritt am ehesten vertreten? Mail an den Autor des Kommentars

Contra: Ein harter Lockdown wäre derzeit in zahlreichen Kreisen nicht einmal im Ansatz verhältnismäßig. Jedes Bundesland sollte das Mögliche tun, um der Situation angemessen Menschen zu schützen. Aber nicht jedes Bundesland muss dabei das Gleiche machen, meint Martin Brüning.

Irgendwie klappt es nicht richtig. Seit Anfang November ist Deutschland im sogenannten Lockdown light, aber die Kurve der Neuinfektionen bekommt keinen richtigen Schwung nach unten und eine Entspannung der Lage ist in vielen Regionen nach wie vor nicht in Sicht. Dabei ist die Situation in manchen Bundesländern besonders kritisch. Allen voran kämpft Bayern trotz des ständig mahnenden Ministerpräsidenten Markus Söder mit hohen Infektionszahlen, Berlin musste schon den Aufnahmestopp in mehreren Krankenhäusern verhängen, Sachsen will am Montag in einen harten Lockdown gehen und Schulen, Kindergärten sowie die nicht lebensnotwendigen Geschäfte schließen. Die neue Lockdown-Welle hat gestern auch in der niedersächsischen Landespolitik eine Debatte über mögliche Verschärfungen ausgelöst.  Aber taugt Sachsen überhaupt als Vorbild für ganz Deutschland, um die Lage endlich in den Griff zu bekommen, damit man nicht bis ins Frühjahr hinein im Lockdown light bleiben muss?
Vielleicht sollte der bayerische Ministerpräsident erst einmal die Hausaufgaben im eigenen Bundesland erledigen, bevor er den starken Mann markiert und länderübergreifende Maßnahmen fordert.
Der Blick auf einen Durchschnitt der bundesweiten Zahlen hilft an dieser Stelle nicht besonders weiter, das lässt sich allein aus einem Flächenland wie Niedersachsen ableiten, wo die Sieben-Tages-Inzidenz von 6,2 im Kreis Lüchow-Dannenberg bis knapp 168 im Kreis Cloppenburg reicht. Schleswig-Holstein liegt landesweit fast schon wieder unter der 50er-Marke, im Süden explodieren die Zahlen dagegen weiterhin: Im bayerischen Passau liegt der Wert bei knapp 339, im Kreis Regen bei 589, im badischen Pforzheim bei 357. Die Forderung von Markus Söder nach einem bundesweiten harten Lockdown dürfte bei vielen Menschen in den nördlich gelegenen Bundesländern zu Verwunderung führen. Vielleicht sollte der bayerische Ministerpräsident erst einmal die Hausaufgaben im eigenen Bundesland erledigen, bevor er den starken Mann markiert und länderübergreifende Maßnahmen fordert.
Ein harter Lockdown wäre derzeit in zahlreichen Kreisen nicht einmal im Ansatz verhältnismäßig.
Sachsen geht den sinnvolleren Weg. Das Land hat große Schwierigkeiten, ist inzwischen ein bundesweiter Hotspot. Laut Ministerpräsident Michael Kretschmer gibt es in manchen Regionen keine Intensivbetten mehr. Folgerichtig hat das Land nun seine Maßnahmen verschärft, auch den Grenzverkehr zu Tschechien eingeschränkt. Genau hier liegt die Stärke der Gliederungen in Deutschland. Es ist möglich, auf Landkreis- und Landesebene entsprechend zu reagieren, ohne dass ganz Deutschland sofort davon betroffen sein muss. Es ist auch die Verfassung, die uns immer wieder zwingt , die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zu stellen und genau abzuwägen, was sinnvoll und angemessen ist. Ein harter Lockdown wäre derzeit in zahlreichen Kreisen nicht einmal im Ansatz verhältnismäßig. Warum sollte eine Schule im Kreis Dithmarschen oder in Aurich schließen, weil im Kreis Bautzen die Infektionszahlen durch die Decke gehen? In der Landtagsdebatte verwies gestern auch der CDU-Sozialpolitiker Volker Meyer auf die höchst unterschiedlichen Inzidenzwerte in Deutschland. Man brauchen in Ländern mit hohen Werten andere Maßnahme als zum Beispiel in Niedersachsen. Das verstehe sich von selbst, und danach solle man sich ausrichten, sagte Meyer.
Statt starker Sprüche à la Söder wäre politisch eher starkes und vorausschauendes Handeln angebracht.
Offenbar versteht es sich für viele aber nicht mehr von selbst, und sie wählen die einfachste aller Antwort: die gleichen harten Maßnahmen für alle. Dabei sind regionale harte Lockdowns sinnvoll, wenn die Lage vor Ort nicht mehr kontrollierbar ist. Ein bundesweiter Lockdown ist dagegen in der aktuellen Situation in Frage zu stellen. Das liegt nicht nur an den Erfahrungen des ersten harten Lockdowns, den in seinem Umfang sogar Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Nachhinein als möglicherweise unverhältnismäßig anzweifelte. Es geht auch um die Dauer, in der das Land in den absoluten Stillstand gelegt wird. Wie beim ersten Lockdown wird man frühestens nach zwei Wochen etwas genauer analysieren können, wie sich die Infektionszahlen entwickeln. Ein vermutlich am Ende vierwöchiger harter Lockdown dürfte die Folge sein. Statt starker Sprüche à la Söder wäre politisch eher starkes und vorausschauendes Handeln angebracht. Ältere und kranke Menschen müssen systematisch besser geschützt werden. Das Tragen von FFP-2-Masken bei Personal und Reinigungskräften in Alten- und Pflegeheimen sollte die Regel werden, auch regelmäßige Tests müssen hier mehr Sicherheit und Kontrolle bieten. Jedes Bundesland sollte das Mögliche tun, um der Situation angemessen Menschen zu schützen, aber nicht jedes Bundesland muss dabei das Gleiche machen. Mail an den Autor des Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #223.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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