„Es war die Sternstunde meines Lebens, als die Gleichberechtigung der Frau … zur Annahme kam“, erinnerte sich Elisabeth Selbert (SPD), eine der „Mütter“ des Grundgesetzes. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es in Artikel 3, Absatz 2. Die Juristin hatte das in einer Demokratie für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Doch sie wurde bitter enttäuscht: In der ersten Lesung fiel ihr Vorschlag im Parlamentarischen Rat durch. Anschließend gelang es ihr, mit Hilfe von Frauenverbänden so großen Druck aufzubauen, dass der Gleichheitsgrundsatz doch noch Teil der unveräußerlichen Grundrechte wurde.

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Die Formulierung klingt erstmal nach einer Tatsache: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Doch 1949 war die Realität eine andere: Weiterhin galt das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896. Eine verheiratete Frau brauchte die Zustimmung ihres Mannes, um zu arbeiten oder ein Konto zu eröffnen. Er entschied sogar, ob sie einen Schlüssel zur gemeinsamen Wohnung haben durfte. Das Bundesverfassungsgericht setzte dem Bundestag eine Frist, um den Gleichheitsgrundsatz in ein zeitgemäßes Familienrecht umzusetzen. Die Frist verstrich. Erst 1958 wurde der „Stichentscheid“ des Ehemannes abgeschafft, 1977 der Vorbehalt, dass Frauen nur dann arbeiten durften, wenn sie ihre Pflichten in Ehe und Familie nicht vernachlässigten. 1994 schließlich erhielt der Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes eine Ergänzung, die klarstellte: Gleichstellung ist noch keine Tatsache, sondern ein Ziel, dem der Staat verpflichtet ist. Dieses Ziel wurde noch konkreter benannt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Es wird keine Gerechtigkeit im Arbeitsleben, beim Gehalt und später bei der Rente geben, solange sich bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nichts bewegt.

Und hier bleibt eine Menge zu tun. Es wird keine Gerechtigkeit im Arbeitsleben, beim Gehalt und später bei der Rente geben, solange sich bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nichts bewegt. Schmerzhaft ist, dass sich an dieser Stelle die Interessen von Frauen gegenüberstehen: Auf der einen Seite brauchen Eltern eine verlässliche Kinderbetreuung, um Sorgearbeit und Erwerbsarbeit fair untereinander teilen zu können. Auf der anderen Seite wird diese Kinderbetreuung nach wie vor in der großen Mehrheit von Frauen geleistet. Erzieherinnen und Sozialassistentinnen ringen um Anerkennung und akzeptable Arbeitsbedingungen. In den Köpfen mancher Politiker scheint immer noch das Bild der „Kindergartentante“ zu spuken, deren Aufgabe im Verwahren und Bespaßen besteht. Solange nicht beide – gleichermaßen berechtigten – Anliegen von Frauen gesehen werden, wird es mit der Gleichstellung im Job nicht vorangehen.

Seit 2015 gibt es Gesetze, die Frauenquoten für Aufsichtsräte und Vorstände vorschreiben. Die Signalwirkung ist überschaubar. Offenbar passiert es nicht automatisch, dass Frauen an der Spitze andere mitziehen und ermutigen. Man muss darüber nachdenken, wie weibliche Führungskräfte auch im mittleren Management eine Selbstverständlichkeit werden. Okay, niemand hat davon geträumt, eine „Quotenfrau“ zu sein – aber was ist die Alternative?

Der Artikel 3 des Grundgesetzes ist nicht der Einzige, der derzeit mit Gewalt herausgefordert wird. Physische und verbale Übergriffe bedrohen viele Grundrechte. Was Gewalt gegen Frauen betrifft, so ist es nötig, ihre politische Dimension anzuerkennen: Hass auf Frauen ist keine persönliche Meinung und Gewalt in einer Partnerschaft keine private Tragödie. Vielmehr sind die Morde, die Beleidigungen in den sozialen Medien, die Gewaltexzesse und sexuellen Übergriffe Versuche, das Rad zurückzudrehen: in eine Fantasy-Vergangenheit zu reisen, in der Frauen hübsch und fürsorglich sind und sich ansonsten aus allem heraushalten. Aber eine solche Vergangenheit gab es nie. Spätestens seit 1949 das Grundgesetz in Kraft trat, sollte sie auch aus den Köpfen verschwunden sein. Apropos „aus den Köpfen verschwunden“: Artikel 3 scheint mir ein gutes Argument, die Debatten über eine geschlechtergerechte Behördensprache zu den Akten zu legen und sich wichtigeren Fragen zuzuwenden. Wer sich dafür interessiert, kann darüber streiten, wie die offizielle Sprache gerechter werden (und praktikabel bleiben) soll. Aber das „ob“ sollte keine Frage mehr sein. Denn dass wir nicht hinter das Erreichte zurückgehen dürfen, sollte durch den Zusatz von 1994 geklärt sein.