„Antisemiten sind aggressiver, offener und lauter geworden in Deutschland“
Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn hat sich intensiv mit der deutschen Geschichte und mit dem Antisemitismus beschäftigt. 2017 wurde er „Hochschullehrer des Jahres“ – er hat verschiedene Bücher geschrieben, zum Beispiel „Friedenskanzler? Willy Brandt zwischen Krieg und Terror“, „Deutsch-jüdische Glückskinder, eine Weltgeschichte meiner Familie“ und „Zum Weltfrieden“. Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick äußert sich der Münchener zum Gedenken an den 9. November.
Rundblick: Herr Prof. Wolffsohn, am heutigen 9. November ballen sich die Anlässe für eine Erinnerung an besondere Ereignisse der deutschen Geschichte. Behagt ihnen die Erinnerungskultur in Deutschland – oder sehen Sie Schräglagen?
Prof. Wolffsohn: Nobody´s perfect. Es gibt in Deutschland viel guten Willen, „es“ besser zu machen als „die damals“. Wollen bedeutet nicht automatisch können. Erinnerungskultur, was immer das genau sei, wird fast zwangsläufig Ritual, und bei Ritualen überdeckt die Form oft den Inhalt. Der Inhalt gerät zur Phrase, wird aber nicht gelebt.
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Rundblick: Heute vor 100 Jahren wurde die erste deutsche Republik ausgerufen. In Niedersachsen gibt es unterschiedliche Ansätze der Erinnerung – linke Kräfte würdigen eher den Aufstand der Matrosen und die revolutionären Bewegungen, bürgerliche Kräfte loben die Besonnenheit, in der etwa Friedrich Ebert für einen geordneten Verlauf der Ereignisse sorgen wollte. Wie beurteilen Sie die damaligen Ereignisse?
Prof. Wolffsohn: Die Interpretation der Vergangenheit ist in einer offenen Gesellschaft überall und immer von der politisch-ideologischen Positionierung in der Gegenwart abhängig. Geschichte besteht aus Schichten, jede Gesellschaft besteht aus Schichten. Jede gesellschaftliche Schicht konzentriert sich sozusagen auf ihre Geschichtsschicht. Erst die Summe der Schichten ist Geschichte. Ergo haben alle von Ihnen Genannten auf ihre unvollständige Weise Recht. Doch kein Teilbild entspricht dem Gesamtbild.
Es wäre fatal, gäbe es heute in Deutschland Hitler-Straßen, aber auch Hindenburg besser nicht.
Rundblick: Der 9. November steht auch im Zeichen der Erinnerung an die Pogrome der Nazis. Wie beurteilen Sie den Antisemitismus heute in Deutschland? Wo sehen Sie heute Anzeichen einer gewaltsamen Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten?
Prof. Wolffsohn: Sie beziehen sich offenbar auf Antisemiten von rechts. Die Zahl diese Antisemiten ist in den letzten zwei Jahrzehnten nicht gestiegen. Sie sind aber aggressiver, offener und lauter geworden. Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte sind die Übergänge zwischen ihnen und der Mitte der Gesellschaft fließend geworden. Stichwort AfD. Vergessen Sie aber bitte nicht den Antisemitismus von links. Stichwort Corbyn und die britische Labour Party. Für linke Deutsche ist Corbyn eine Ikone. Militanter als rechte und linke Antisemiten sind derzeit in Deutschland und Westeuropa allerdings muslimische Judenhasser. Wahrlich nicht alle Muslime sind Judenhasser oder -mörder, aber die meisten Judenhasser und -mörder sind derzeit Muslime.
Rundblick: In Niedersachsen, vor allem in Hannover, wird derzeit über eine Umbenennung von Straßen diskutiert. So soll auf diese Weise der Name des früheren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg aus dem Stadtbild verschwinden. Haben Sie Verständnis für solche Forderungen? Was halten Sie vom Versuch, mit der Umbenennung von Straßen ein symbolisches Zeichen der Erinnerungskultur zu setzen?
Prof. Wolffsohn: Straßennamen sollen Identitäten stiften. Wer meint, Paul von Hindenburg solle heute noch oder wieder deutsche Identität stiften, ist hoffentlich in der Defensive. Natürlich besteht zwischen Hindenburg und Hitler ein Riesenunterschied. Es wäre fatal, gäbe es heute in Deutschland Hitler-Straßen, aber auch Hindenburg besser nicht.