18. Mai 2016 · Archiv

Am Rande: Posse mit Millionen-Schaden

(rb) Wie sich eine ländliche Posse zu einem wirklichen Schildbürgerstreich mit möglicherweise astronomischen Folgekosten für die Steuerzahler entwickelt, demonstriert derzeit die ostfriesische Küstengemeinde Esens. Eine Steilvorlage für die Autoren von Ostfriesen-Witzen. Um falschen Eindrücken vorzubeugen: Es handelt sich hier nicht um den satirischen Beitrag in irgendeiner Fernsehsendung. Vielmehr geht es in diesem Fall um erschreckende Real-Satire: Im Jahr 2014 stellte das Bundesverwaltungsgericht Leipzig fest, dass es sich bei der kommunalen Umgehungsstraße im Nordseebadeort Bensersiel im Landkreis Wittmund um einen „Schwarzbau“ handelt. Der Eigentümer der für diesen Straßenbau benötigten Flächen sei zu Unrecht auf Betreiben der Gemeinde Esens enteignet worden. Die Straße muss abgerissen werden, so haben es am 27. März 2014 in der letzten Instanz die Richter festgestellt (BVerwG 4 CN 3.13). Weil der Autoverkehr aber immer noch über die verbotene Straße rollt und die Gemeinde Esens das höchstrichterliche Urteil einfach ignoriert, will der Grundstückseigentümer die Kommune nun in einem weiteren Klageverfahren zum sofortigen Abriss der Straße zwingen und hatte eine inzwischen verstrichene Frist bis zum diesjährigen Pfingstfest gesetzt. Der finanzielle Schaden für die nur schlecht vom Tourismus lebende Gemeinde wird inzwischen auf mindestens rund 15 Millionen Euro geschätzt, gut zehn Millionen Euro für den Bau der Straße und die Kosten für die rechtlichen Auseinandersetzungen sowie bis zu fünf Millionen Euro für den Rückbau der zweispurigen Fahrbahn. Mögliche Schadensersatzleistungen nicht eingerechnet. Die Gemeinde ist allerdings schon jetzt sehr klamm. Ihr aktueller Haushalt weist einen Verlust von 735 000 Euro aus. Seit dem Leipziger Urteilsspruch versucht die Gemeinde Esens, die Straße zu retten. Allerdings hatte das Bundesverwaltungsgericht die Möglichkeit einer „nachträglichen Heilung“ des umstrittenen Bebauungsplans verneint. In dem Normenkontrollverfahren vor dem BVerwG hatte der enteignete Grundstückseigentümer sich gegen den Bebauungsplan Nr. 67 „Kommunale Entlastungsstraße“ der Gemeinde Esens gewandt. Ihm gehört eine landwirtschaftliche Hofstelle im Westen von Esens mit etwa 70 Hektar zusammenhängender landwirtschaftlicher Fläche, die seit 2011 durch die neue Straße durchschnitten wird. Das BVerwG hatte außerdem festgestellt, dass die Straße nicht hätte gebaut werden dürfen, weil sie mitten in einem Vogelschutzgebiet liegt. Damit werde gegen die europäische Vogelschutzrichtlinie verstoßen. Dieser Zustand könne auch nicht dadurch „geheilt“ werden, dass das Land Niedersachsen ein Vogelschutzgebiet an die Europäische Kommission melde, welches zwar an die Trasse der Straße heranreiche, diese aber nicht in das Schutzgebiet einbeziehe. Und das höchste Gericht stellt ausdrücklich fest: Dieses Urteil ist rechtskräftig. Doch auch das zuständige Umweltministerium in Hannover ignoriert den Richterspruch. Von dort wird das Vorgehen der Gemeinde Esens unterstützt, die eine Neuabgrenzung des Vogelschutzgebietes vorantreibt und mit einem geänderten Bebauungsplan versuchen will, den Abriss der Straße zu verhindern. Jetzt werden Gutachten erstellt, legen die Planer im Rathaus von Esens einen neuen Bebauungsplan auf und leiten die notwendigen behördlichen Schritte ein. Umweltschützer wie der Wattenrat in Ostfriesland stehen an der Seite des erfolgreich klagenden Grundstückseigentümers. Sie monieren das „vorsätzliche“ Handeln der Kommune und die Ignoranz gegenüber dem Natur- und Vogelschutz. Das Vogelschutzgebiet bei Bensersiel sei durch den Straßenbau bereits erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden, meint Manfred Knake vom Wattenrat. Lebensräume von Rohrsängern und Blaukehlchen seien zerstört worden. Viele Wattvogelarten blieben fern, die sonst aus dem angrenzenden Nationalpark Wattenmeer diese Flächen vor dem Straßenbau als Rastgebiete genutzt hätten. Knake kritisiert auch das Verhalten der klagebefugten Naturschutzverbände in Niedersachsen. So sei der Wittmunder Kreisvorsitzende des Naturschutzbundes in den „Geburtsstunden“ der Umgehungsstraße Ratsmitglied in Esens und sogar Vorsitzender des dortigen Bau- und Umweltausschusses gewesen. Er habe damals in den kommunalen Gremien von Esens für den Bau der Umgehungsstraße gestimmt. stu
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #94.
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