(rb) Nach einem Jahr voller Erinnerungen an tragische Ereignisse oder auch freudige Anlässe, die sich zum 70. Mal gejährt haben, ist die Erinnerungskultur in diesem Jahr eher zurückhaltend. Zu den Ereignissen, die es 2016 dennoch zu feiern gilt, gehört die Gründung des Landes Niedersachsen vor 70 Jahren, als sich im November 1946 die vormaligen Länder Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg- Lippe zu einem neuen, zunächst künstlichen Gebilde zusammengefunden haben. Manchen Teilen des Landes bzw. einigen ihrer Protagonisten fällt es heute noch schwer, „nur“ ein Teil Niedersachsens zu sein. Manche toben diese Konkurrenzkämpfe um die Vorherrschaft in den Fußballstadien aus, allerdings mehr auf den Rängen und vor den Stadien als auf dem grünen Rasen.
Noch vor den Gründungsfeierlichkeiten, die Hinrich-Wilhelm Kopf zunächst zum ernannten, später zum ersten gewählten Ministerpräsidenten machten, wurde bereits per Erlass das „Niedersächsische Amt für Landesplanung und Statistik“ ins Leben gerufen, der Vorläufer des heutigen Landesamtes für Statistik, denn die damalige Lage in dem vom Krieg völlig zerstörten Land und der darauf folgenden Vertreibung und Flucht von Millionen Menschen aus den früheren deutschen Ostgebieten verlangten ein immer wieder aktualisiertes Zahlenmaterial, um die Herausforderungen zu bewältigen. Interessanterweise sind die noch heute allseits beliebten „Statistischen Monatshefte“ bereits in dieser Zeit entstanden. Die erste Ausgabe erschien 1947 und befasste sich – wen wunderts? – mit dem Flüchtlingszustrom.
Auch wenn ein Vergleich der Zuwanderung von 2016 mit der von 1946 nicht erlaubt ist, wird immer gern an die große Integrationsleistung der Nachkriegszeit besonders in Niedersachsen erinnert, als Millionen Menschen unterzubringen waren, während die ansässige Bevölkerung oft selbst kein Dach über dem Kopf hatte. Die entsprechenden historischen Zahlen hat das Landesamt jetzt in Erinnerung an die Anfänge der Statistik in Niedersachsen veröffentlicht. Auch damals war man zunächst von einer hohen Zuwanderungszahl ausgegangen, die aber am Ende ein noch viel höheres Niveau erreichte, als man erwartet hatte.
Nach einem Kommuniqué des Alliierten Kontrollrats vom August 1945 sollten 6,65 Millionen Deutsche aus Polen und dem übrigen Ausland ausgewiesen werden; bis August 1947 sollte diese „Umsiedlung“ abgewickelt sein. Die britisch besetzte Zone, zu der Niedersachsen zählte, sollte mit 1,5 Millionen Menschen dabei sein. Tatsächlich wurden im Frühjahr 1947 bereits zehn Millionen Ausgewiesene und Vertriebene in Deutschland gezählt, davon 3,2 Millionen in der britischen Zone und davon 1,5 Millionen in Niedersachsen. Grundlage für die Verteilung dieser Menschen war die von Kopf als damaligem Oberpräsidenten von Hannover verfügte monatliche Bevölkerungs- und Flüchtlingsstatik. Jeden Monat mussten die Gemeinden den Nachweis der „Bevölkerungsvorgänge“ an ihren Landkreis melden, der diese Zahlen an das Amt für Statistik weiterleitete.
Auch nach dem eigentlichen Abschluss der Umsiedlung von Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, der „Aktion Schwalbe“, im Januar 1947 kamen weiterhin monatlich rund 50 000 „illegale Zuwanderer“ über die niedersächsischen Grenzen, hauptsächlich über das Durchgangslager Friedland. Die Statistiker zählten am 1. September 1947 insgesamt 6,65 Millionen Menschen in Niedersachsen, davon gehörten 4,17 Millionen zur „ständigen Bevölkerung“, 1,58 Millionen waren Ausgewiesene und Vertriebene, knapp 680 000 Evakuierte aus anderen Besatzungszonen, nahezu 2700 kamen aus Österreich, 155 000 waren Ausländer und rund 52 000 vor allem heimgekehrte deutsche Kriegsgefangene.
Was die damalige Statistik nicht verrät, ist der hohe Anteil derer, die der Wohnbevölkerung als Einquartierung zugewiesen wurden, so dass diese ihren begrenzten Wohnraum mit den Flüchtlingen teilen musste. Es hat lange Zeit Feindseligkeiten gegeben, weil die Menschen „aus dem Osten“ nicht nur Wohnraum beanspruchten, sondern Arbeitsplätze, die es – auch für die Heimkehrer – in nur geringem Umfang gab. Mit dem Wiederaufbau änderte sich das schnell, denn nun wurde jede Hand gebraucht, und man holte sich schließlich sogar noch „Gastarbeiter“ aus dem Ausland. Dennoch gibt es noch heute etliche, besonders ältere Menschen, die angesichts des Zustroms von Flüchtlingen wieder Einquartierung von fremden Leuten fürchten. Aber das sind ganz sicher nicht diejenigen, die aus ganz anderen Gründen Brandsätze in Flüchtlingsunterkünfte werfen. azDieser Artikel erschien in Ausgabe #25.