Dort, wo Hunderte ertrinken: Ein Flüchtlingshelfer berichtet
Von Isabel Christian
Wenn ein Held jemand ist, der Menschen rettet, dann ist Till Rummenhohl bestimmt ein Held. Nicht einen, nicht zehn, sondern mehr als 4000 Menschen hat der 25 Jahre alte Student schon vor dem sicheren Tod durch Ertrinken bewahrt. Und das in nur vier Monaten. Rummenhohl ist als Freiwilliger auf der „Aquarius“ mitgefahren, einem Rettungsschiff der Hilfsorganisation „SOS Méditerranée“. Über diese Arbeit berichtete er jetzt in Hannover auf Einladung des Evangelischen Flüchtlingsnetzwerks. Die Aktivisten fischen Flüchtlinge aus dem Mittelmeer, die in maroden Holzbooten oder einfachen Schlauchbooten von Schleppern in Richtung Italien geschickt werden. Nur, dass sie dort von allein nie ankommen werden.
Im Regelfall reicht der Treibstoff nur knapp zwölf Seemeilen für die Fahrt von der libyschen Küste in internationale Gewässer. Dort fällt dann meistens der Motor aus und die Menschen werden entweder zurückgetrieben, sterben durch Ertrinken oder an Erschöpfung – oder sie werden von den Hilfsorganisationen entdeckt und gerettet. Es klingt nüchtern, wie Rummenhohl von diesen Schicksalen erzählt. Aber der Student sagt von sich selbst, er wolle nicht missionieren. Er wolle auch keine Politik machen. Er wolle einfach erzählen, was ist. „Wir sind sozusagen das Auge vor Ort und das ist neben dem Retten unsere wichtigste Aufgabe, finde ich.“ Sie wollen bezeugen, durch welche Hölle die Flüchtlinge gehen müssen, bevor sie überhaupt ans Meer gelangen. Dass sie den Tod in Kauf nehmen für die kleine Hoffnung, irgendwann ein Leben in Freiheit und Sicherheit führen zu können. Und dass die EU-Politik leider dazu beiträgt, diese Hoffnung zu zerstören.
Bevor er deshalb vom Meer erzählt, wirft Rummenhohl ein paar nackte Zahlen und Fakten über die Region in den Raum, aus dem die Geretteten geflohen sind. Gambia: Militärstaat, eine der repressivsten Diktaturen der Welt. Wer das System kritisiert, wird gefoltert. Mali: Tuareg, Islamisten und Militär kämpfen blutig um die Vorherrschaft. 11.000 UN-Soldaten sind seit Jahren dort, ohne dass es gelingt, Stabilität herzustellen. Senegal: 90 Prozent der dort produzierten Waren gehen in die EU, 80 Prozent der dort verkauften Waren kommen aus der EU. Leisten kann sie sich kaum jemand, die Bevölkerung wächst rasant, die Armut auch. Nigeria: Seit 2009 große Teile von der Terrororganisation Boko Haram kontrolliert. Der gesamte Norden ist von Hilfe abgeschnitten. Eritrea: noch repressiver als Nordkorea, Kinder werden auf unbestimmte Zeit zum Militärdienst gezwungen. „Die meisten Flüchtlinge kommen aus Mali und Somalia und flüchten vor Bürgerkrieg und Gewalt“, sagt Rummenhohl.
Ihr Weg führt sie zuerst durch die Wüste Sahara, schon für diesen Abschnitt müssen sie Schlepperbanden bezahlen. „Wer es allein versucht, wird von kriminellen Banden entführt und erpresst oder weiterverkauft“, sagt Rummenhohl. Doch die Schlepper sind nicht zuverlässig. Oft überlassen sie die Flüchtlinge einige Kilometer vor Libyen einfach sich selbst. „Es gibt keine genauen Zahlen, doch Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass in der Wüste mindestens genauso viele Menschen sterben wie auf dem Mittelmeer.“ Auf See kamen allein im vergangenen Jahr 4400 Menschen um, in diesem Jahr waren es bereits 1600. „Obwohl es extrem viele Rettungsmissionen gibt, die im Mittelmeer kreuzen und nach Booten Ausschau halten“, sagt Rummenhohl. Die Aktivisten gehen zudem davon aus, dass die Zahl der Toten sprunghaft steigt, wenn der Sommer kommt und das Mittelmeer ruhig wird. Da die Türkei den Landweg in die EU abgeriegelt hat und sich im Nordosten Libyens die Terrorgruppe Islamischer Staat ein Hauptquartier eingerichtet hat, führt die einzige Route der Flüchtlinge über Tripolis. Hier sitzen viele oft monatelang unter schlimmen Bedingungen fest, bis sie das Geld für die Überfahrt nach Italien aufbringen können. Dann setzen die Schlepper sie auf hoffnungslos überfüllte Boote und überlassen sie sich selbst. „Sie sagen ihnen: ,Haltet auf das Licht am Horizont zu, das sind die Lichter von Italien. In acht Stunden seid ihr da‘“, berichtet Rummenhohl. „Doch das stimmt nicht. Es sind die Lichter einer Bohrinsel. Bis Lampedusa sind es sechs Tage, das schafft heute fast kein Boot mehr.“
30 Freiwillige fahren immer auf der „Aquarius“ mit, dem Rettungsschiff der Organisation „SOS Méditerranée“. In Anderthalb-Stunden-Schichten halten sie Ausschau nach Booten mit Flüchtlingen. Entdecken sie eins, fahren sie mit Schlauchbooten hin, verteilen Rettungswesten und erklären, was nun geschieht. „Wir bringen die Flüchtlinge immer in kleinen Gruppen an Bord der Aquarius“, sagt Rummenhohl. Führen sie mit dem Schiff zu nah heran, sprängen die Flüchtlinge ins Wasser, weil sie glaubten, sie könnten es allein schaffen. Doch das gefährdet die ganze Mission. „Wenn das Gewicht auf den Booten nicht ausgeglichen ist, kippen sie um und es sind plötzlich Hunderte Menschen im Wasser“, sagt Rummenhohl. Am schlimmsten seien die Holzboote. Kippten sie um, ertränken im Inneren Hunderte Flüchtlinge.
Wie viele andere Missionen im Mittelmeer finanziert sich auch „SOS Méditerranée“ nur durch Spenden. „Wir wollen auch gar keine staatliche Unterstützung.“ Doch Rummenhohl kritisiert, dass die EU so viel Geld ausgibt, um die Flüchtlinge auf ihrer Route zu stoppen. Allein 2017 sollten 200 Millionen Euro nach Libyen überwiesen werden, um die Seegrenze zu sichern und den Flüchtlingen den letzten offenen Weg nach Europa abzuschneiden. „Wir überweisen Geld an einen zerfallenen Staat, in dem mehrere Gruppen um die Macht kämpfen und Menschen keine Chance auf Schutz haben?“ Die Schließung vieler Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland gaukele vor, die Krise sei überstanden. „Doch durch die Abschottung schieben wir die Last Italien und Libyen zu“, sagt Rummenhohl. Er appelliert deshalb die Zuhörer, sich weiter über die Flüchtlingsströme zu informieren. „Fragt, warum Menschen nach Europa kommen und warum sie zurzeit nicht mehr kommen. Und warum es nicht möglich scheint, die Hilfsbereitschaft von vor anderthalb Jahren einfach weiterzuführen.“