„Wir sollten die Parteien verpflichten, so viele Männer wie Frauen aufzustellen“
In Deutschland wird über die Reform des Wahlrechts diskutiert. Soll man mit einem „Paritätsgesetz“ vorgeben, dass die Parteien mehr weibliche Kandidaten zur Wahl stellen? Die hannoversche Juristin und Hochschullehrerin Prof. Frauke Brosius-Gersdorf hat einen eigenen Vorschlag: Erstens sollten die Parteien verpflichtet werden, so viele Männer wie Frauen aufzustellen. Zweitens sollten die Wähler die Möglichkeit haben, einzelne Kandidaten auf den Landeslisten anzukreuzen. Bei den Erststimmen müssten die Parteien jeweils eine Bewerberin und einen Bewerber anbieten. Die Professorin äußert sich im Interview mit dem Politikjournal Rundblick.
Rundblick: Frau Prof. Brosius-Gersdorf, warum meinen Sie, dass es zu einer Wahlrechtsänderung zur Frauenförderung kommen sollte?
Prof. Brosius-Gersdorf: Seit 1994 steht folgender Satz in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Daraus folgt die Pflicht des Staates, gegen faktische Benachteiligungen von Frauen in Staat und Gesellschaft vorzugehen – also auch dagegen, dass Frauen in den Parteien nicht richtig zum Zuge kommen, wie es bei den Kandidatenaufstellungen sowohl im Hinblick auf die Listen als auch auf die Direktwahlplätze der Fall ist.
Rundblick: Aber ist der geringe Anteil weiblicher Kandidaten bei einer geringen weiblichen Mitgliederzahl in den Parteien nicht auch ein Zeichen von angemessener Repräsentation?
Prof. Brosius-Gersdorf: Die Benachteiligung von Frauen in den Parteien beginnt schon bei der Frage, wer sich in den Parteien engagiert. Dort herrschen Bedingungen, die für Männer annehmbarer sind als für viele Frauen. Und mit Blick auf eine Wahlrechtsreform geht es gar nicht um den Frauenanteil in den Parteien, sondern im Volk. Denn die Parteien nehmen bei der Kandidatenaufstellung Rechte im und für den Staat wahr (status activus). Deshalb kommt es für eine gesetzliche Parité-Quote nicht auf den Frauenanteil in den Parteien, sondern auf den Frauenanteil in der Bevölkerung an, der bei 50 Prozent liegt. Gemessen hieran sind Frauen bei den Listen- und Direktwahlplätzen unterrepräsentiert, was an strukturellen Barrieren für sie in den Parteien liegt. Deshalb ist eine gesetzliche Regelung, die darauf zielt, diese Nachteile für Frauen bei der Kandidatenaufstellung zu beheben, durch Artikel 3 Absatz Satz 2 des Grundgesetzes legitimiert und geboten.
Rundblick: Wie kann das geschehen – wenn wir zunächst die Zweitstimmen bei Landtags- und Bundestagswahlen betrachten?
Prof. Brosius-Gersdorf: Der Gesetzgeber sollte den Parteien die Quotierung der Wahllisten vorgeben. Das heißt, auf den Listen müssen dann genauso viele Männer stehen wie Frauen, und zwar bei jeder Partei. Auf Grundlage des für den Bundestag geltenden Wahlsystems mit starren Listen hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, ein Reißverschlussprinzip vorzugeben. Darin liegt natürlich eine Beschränkung von Wahlgrundsätzen (Artikel 38 Absatz 1 GG) sowie der Autonomie der Parteien bei der Kandidatenaufstellung (Artikel 21 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 38 Absatz 1 GG). Dies ist aber gerechtfertigt durch den Gleichberechtigungsauftrag des Staates (Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG).
Die Benachteiligung von Frauen in den Parteien beginnt schon bei der Frage, wer sich in den Parteien engagiert.
Rundblick: Also sind Sie für ein Reißverschlussverfahren auf den starren Listen – immer abwechselnd ein Mann und eine Frau oder umgekehrt?
Prof. Brosius-Gersdorf: Das muss nicht sein. Der Gesetzgeber hat noch eine andere Möglichkeit, nämlich sich für ein System offener Listen mit einfacher Quotierung und Kandidatenwahlmöglichkeit des Bürgers zu entscheiden. Das heißt, es wird nur die gleiche Anzahl von Männern und Frauen auf der Liste vorgeschrieben unabhängig von der Platzierung. Dem Wähler wird dann die Möglichkeit gegeben, einzelne Kandidaten auf der Liste anzukreuzen. Am Ende wäre dann für die Reihenfolge des Einzugs der Abgeordneten in das Parlament die Frage entscheidend, wer die meisten, zweitmeisten Stimmen und so weiter bekommen hat. Auch in diesem Modell liegt eine Beeinträchtigung von Wahlgrundsätzen des Artikel 38 Absatz 1 GG sowie der Parteienautonomie bei der Kandidatenaufstellung (Artikel 21 Absatz 1 GG). Auch ein solches Modell ist aber gerechtfertigt durch den Gleichberechtigungsauftrag des Staates (Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG). Der Gesetzgeber kann zwischen beiden Modellen, also der starren Liste mit Reißverschlussprinzip und der offenen Liste mit einfacher Quotierung und Kandidatenwahlmöglichkeit, wählen.
Rundblick: Bei dem letzten Modell hätte man dann aber nicht zwingend einen gleichen Anteil von Frauen und Männern im Parlament erreicht…
Prof. Brosius-Gersdorf: Richtig, aber für die paritätisch auf der Liste stehenden Frauen bestünden gleiche Chancen wie für Männer, gewählt zu werden. Dadurch wären die Nachteile für sie bei der Nominierung in den Parteien beseitigt. Nur das will der Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG. Und das letzte Wort behält das Volk.
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Rundblick: Wie sieht Ihr Modell bei den Erststimmen aus?
Prof. Brosius-Gersdorf: Zulässig und geboten erscheint mir die gesetzliche Vorgabe eines Tandem-Modells aus Mann und Frau, bei dem der Bürger die Wahl zwischen Mann und Frau hat. Dieses Modell räumt die Nachteile für Frauen bei der Kandidatenaufstellung durch die Parteien aus, verschafft ihnen also Chancengleichheit, und tastet die Wahlfreiheit des Bürgers nicht an. Auch müssten keine Änderungen bei den Wahlkreisen vorgenommen werden. Andere Tandem-Modelle, bei denen der Bürger Mann und Frau, also das Tandem wählen muss, sind aus meiner Sicht nicht ohne weiteres zulässig. Denn dadurch werden nicht nur die bestehenden Nachteile für Frauen bei der Kandidatenaufstellung behoben, sondern es wird für Ergebnisgleichheit im Parlament gesorgt. Ein solches Modell wäre durch den Gleichberechtigungsauftrag des Staates (Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG) nur dann gerechtfertigt, wenn trotz einer Tandem-Pflicht für die Parteien nach wie vor strukturelle Wahlnachteile für Frauen bestehen. Das wird man wohl nur dann sagen können, wenn im Wahlvolk Vorbehalte gegenüber der Eignung von Frauen als Abgeordnete bestehen. Die Studien, die ich kenne, belegen dies nicht.
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Rundblick: Aha, Ihr Modell kommt also ohne aufwendigen Wahlkreis-Neuzuschnitt (Halbierung der Zahl, Verdoppelung der Fläche) aus. Das ist für die Politiker sicher sehr reizvoll. Noch ein Wort zu den Kommunalwahlen, wo es in Niedersachsen schon diese Möglichkeit gibt, die Stimme einzelnen Bewerbern auf der Liste zu geben. Was würden Sie dort ändern, zumal gerade in den Kommunalvertretungen Frauen deutlich unterrepräsentiert sind.
Prof. Brosius-Gersdorf: Ich bin dafür, wie bei Bundestag und Landtag auch hier den Parteien die Vorgabe zu machen, dass sie auf ihren Listen bzw. bei den Direktwahlplätzen jeweils die gleiche Anzahl von Männern und Frauen als Bewerber für ein Mandat anbieten müssen. Die Auswahl zwischen männlichen und weiblichen Kandidaten bliebe dann wieder den Wählern selbst überlassen. Also Tandem-Pflicht mit Kandidatenwahl des Bürgers.
Rundblick: Befürworter des „Paritätsgesetzes“ würden dagegen womöglich einwenden, dass nicht viel geholfen ist, wenn man nur das Kandidatenangebot weiblicher macht. Müsste man nicht dafür sorgen, mehr Frauen in die Parlamente zu schicken?
Prof. Brosius-Gersdorf: Nein, definitiv nicht. Sie müssen sehen, dass der Gleichberechtigungsauftrag des Staates nur eingreift, wenn und soweit strukturelle Nachteile für Frauen bestehen. Diese Nachteile sehe ich derzeit in den innerparteilichen Auswahlprozessen. Dort kommen Frauen nicht angemessen zum Zuge. Wenn wir das ändern, indem jede Partei gleich viele weibliche wie männliche Bewerber benennen muss, wäre dieser Missstand schon behoben. Eine Berechtigung und Verpflichtung des Gesetzgebers, für die Wahl von mindestens 50 Prozent Frauen zu sorgen, ergäbe sich meiner Meinung nach wie gesagt nur unter einer Bedingung: Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse so wären, dass Frauen trotz einer gleichen Nominierungsquote wegen Vorbehalten im Wahlvolk keine gleiche Wahlchancen hätten. Nur: Das sehe ich nicht, eine solche Entwicklung müsste nachweisbar sein.