„Wir hätten manche Einschränkung besser begründen können“
Hat die Landesregierung in der Bekämpfung der Corona-Pandemie alles richtig gemacht? Justizministerin Barbara Havliza verteidigt die Entscheidungen – betont aber gleichzeitig: Die Landesregierung lerne aus den Geschehnissen, und ziehe für das nächste Mal, das hoffentlich nicht allzu bald sein wird, ihre Lehren. Die CDU-Politikerin äußerte sich im Interview mit dem Politikjournal Rundblick.
Rundblick: Frau Ministerin, die überraschend von der Landesregierung beschlossenen Freiheitsbeschränkungen und Verbote wirtschaftlicher Tätigkeit bedeuten einen massiven Einschnitt in die Grundrechte. War das aus Ihrer Sicht angemessen?
Havliza: Wir sind im März regelrecht überrollt worden von den Ereignissen – und damals ging es darum, möglichst schnell und konsequent die Übertragung des Virus einzugrenzen, also Kontakte zu beschränken. Tausende Einzelentscheidungen mussten in kürzester Zeit getroffen werden. Ich bin der Überzeugung, fast alle davon waren erforderlich und angemessen. Wenn wir heute mit einer gewissen Distanz auf diese Zeit blicken, mit einem inzwischen gedämpften Infektionsverlauf und vielen Hygieneauflagen, die von den meisten Menschen eingehalten werden, dann räume ich in der Rückschau gerne ein, dass wir manche Einschränkung hätten besser begründen können. Ein Beispiel für einen Schritt, der schwierig zu erklären war, war die Obergrenze von 800 Quadratmetern für den Einzelhandel. Auf der anderen Seite: Stichtage und Obergrenzen sind immer schwierig zu erklären.
Rundblick: Sind die Begründungen gerichtsfest? Was unterscheidet denn ein Bierlokal mit Speiseangebot von einer Gaststätte – das eine muss schließen, das andere darf öffnen?
Havliza: Grundsätzlich gilt: Die Beschränkung der Freiheit muss begründet werden, nicht die Lockerung – und je entspannter das Infektionsgeschehen wird, desto wichtiger wird die Stichhaltigkeit der Begründung einer möglichen Ungleichbehandlung. Nehmen Sie das Bierlokal oder die Disco: Hier wird vorrangig Alkohol ausgeschenkt, man steht eng zusammen und es hinzu kommt die vernunftbefreiende Wirkung des Alkohols. Unter dem Gesichtspunkt des Infektionsrisikos sind an dieser Stelle reine Speiselokale durchaus anders zu betrachten.
Rundblick: Sind die Gerichte nicht allzu zögerlich vorgegangen?
Havliza: Richter sind keine allwissenden Experten, die auf einer Wolke über uns thronen und wissen, wie die Wirklichkeit zu sein hat und was der richtige Weg ist. Richterinnen und Richter entscheiden nach den Kriterien, die ihnen das Recht an die Hand gibt. Die Gerichte betonen aber auch immer wieder, dass der Regierung ein Entscheidungs- und Ermessensspielraum zur Verfügung steht. Wenn dieser falsch angewendet wird, haben Gerichte das zu korrigieren. Das ist im Sinne der Gewaltenteilung auch richtig.
Rundblick: War es richtig, zu Beginn der Corona-Krise die Macht einfach auf die Exekutive zu übertragen und die parlamentarische Mitwirkung herunterzufahren, ohne vorher formell eine Art Notstand oder Ausnahmezustand (in Niedersachsen haben wir dazu den Artikel 44 in der Landesverfassung) zu erklären? Ist auf diese Weise nicht der fälschliche Eindruck einer fortdauernden Normalität vermittelt worden, der nicht stimmte und mit dem die Frustration vieler Parlamentarier zu erklären ist?
Havliza: Das sehe ich nicht so. Es gibt das Infektionsschutzgesetz des Bundes, das genaue und differenzierte Vorgaben für den Fall einer Pandemie bereithält und zum schnellen Handeln ermächtigt – und es galt und gilt der wichtige Grundsatz, dass die Verordnungen verhältnismäßig sein müssen. Die Eingriffe in die Freiheit der Menschen, die zum Schutz ihrer Gesundheit nötig sind, dürfen nicht zu hart ausfallen. Ob die formelle Erklärung eines Notstandes in Niedersachsen Sinn ergeben hätte, sollten wir in der Rückschau beurteilen.
Rundblick: Aber das Parlament blieb in vielen Entscheidungen außen vor. Jetzt erst, nach zweieinhalb Monaten, kommt der Vorschlag eines Corona-Gesetzes ins Parlament. Dort ist vorgesehen, dass der Landtag eine Pandemie feststellt und dann bestimmte Notmaßnahmen zu wirken beginnen können. Ist das nicht reichlich spät?
Richter sind keine allwissenden Experten, die auf einer Wolke über uns thronen und wissen, wie die Wirklichkeit zu sein hat und was der richtige Weg ist.
Havliza: Dieses Corona-Gesetz ist auch Teil der Antwort darauf, welche Lehren wir aus den Ereignissen ziehen. Am Anfang wurde alles dem Ziel untergeordnet, möglichst schnell die Menschen vor der Ansteckung zu schützen. Ein Landesgesetz wurde Ende März, Anfang April deshalb auch nicht eingefordert. Das wir uns jetzt damit beschäftigen, finde ich aber richtig.
Rundblick: Muss als weitere Lehre das Verhältnis der Grundrechte zueinander neu definiert werden? Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat gesagt, man dürfe dem Schutz des Lebens nicht alles andere unterordnen. Sehen Sie das auch so?
Havliza: Ja, der Schutz des Lebens steht nicht über allen Rechten. Die Würde des Menschen, niedergelegt in Artikel 1 des Grundgesetzes, ist absolut. Alle anderen Grundrechte erfordern in der praktischen Anwendung eine Abwägung. Wir können die Grundrechte nicht getrennt voneinander betrachten, sondern nur im Zusammenhang aller Verfassungsnormen. Wenn Grundrechte miteinander kollidieren, muss dieses Problem über einen möglichst schonenden Ausgleich gelöst werden. Juristen sprechen von praktischer Konkordanz. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat vergangene Woche in einem Interview gesagt, wenn man das Leben uneingeschränkt schützen wolle, müsse man auch den Straßenverkehr verbieten. Zugleich ist es aber in diesen Wochen unsere Aufgabe, die Abwägung zwischen dem Schutz des Lebens und der Gesundheit mit den zahlreichen, weiteren betroffenen Grundrechten laufend abzuwägen.
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Rundblick: Noch eine Frage zur Arbeit in den Gerichten. Der hannoversche Landgerichtspräsident Ralph Guise-Rübe hat vorgeschlagen, Verhandlungen auch abends und an Sonnabenden abzuhalten, wenn die erwartete Prozessflut nach Ende der Corona-Krise bewältigt werden muss. Man könne auch private Sicherheitsdienste engagieren. Bisher hat das Ministerium diesen Weg nicht beschritten. Was sagen Sie dazu?
Havliza: Das sind gute Ideen für die Zeit, die vor uns liegt. Im Moment fahren wir den Betrieb der Gerichte nach und nach wieder hoch. Dazu passt es wenig, wenn jetzt von Ausweitung von Geschäftszeiten die Rede ist. Ich möchte nicht, dass ein Wettlauf in Gang gesetzt wird und plötzlich alle Gerichte meinen, sich bei der Ausweitung der Dienstzeiten überbieten zu müssen. Wenn sich aber ein Stau an Verfahren bildet und ein Landgericht meint, dies nur bei Ausdehnung der Geschäftszeiten zu regeln – dann sollten Präsidium, Richterrat und Personalvertretung das einvernehmlich so festlegen können. Auch der Einsatz privater Sicherheitsfirmen kann als Idee im Hinterkopf gehalten werden.