„Wir haben auf Dauer keine Chance, unsere Herden zu schützen“
„Kommt der Landesvater denn noch?“ fragt einer der Weidetierhalter. „Kannste vergessen. Die ducken sich weg“, antwortet Joachim Rehse. Er ist Vorsitzender des Landeschafzuchtverbands Niedersachsen und mit anderen Tierhaltern nach Hannover gekommen, um auf ungewöhnliche Weise gegen die Übergriffe des Wolfes zu protestieren. Mitten auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Landtag stellen sie Kadaver von toten Tieren zur Schau, die nach Angaben der Demonstranten von Wölfen gerissen wurden. „Ist der Wolf wichtiger als der Mensch“ steht auf dem Plakat, das sie hinter den Tierkadavern hochhalten. Das Fragezeichen dahinter haben sie vielleicht bewusst vergessen. Denn Sie werfen Umweltminister Stefan Wenzel zumindest indirekt vor, dass ihm der Wolf durchaus wichtiger ist.
https://soundcloud.com/user-385595761/wir-haben-auf-dauer-keine-chance-unsere-herden-zu-schutzen
Wenzel selbst bezieht eine dreiviertel Stunde früher im Landtag umfassend Stellung zum Thema Wolf. Die FDP-Fraktion hat nach dem Tod von zwölf Schafen in Südergellersen im Landkreis Lüneburg eine dringliche Anfrage gestellt. Noch ist allerdings nicht endgültig sicher, dass Wölfe für den Tod der Tiere verantwortlich sind. „Künftig soll den Tierhaltern noch schneller Beratung und praktische Unterstützung zukommen“ kündigt der Umweltminister im Plenum an. „Auch wir wollen, dass Weidetierhalter einer gute Zukunft haben.“ Es werde geprüft, wie verstärkt konkrete Soforthilfe vor Ort geleistet werden könne, zum Beispiel durch das Bereitstellen von Zaunmaterial oder tatkräftige Unterstützung. Auch das Meldesystem und das Verfahren zur Feststellung von Rissursachen soll Wenzel zufolge weiter verbessert werden.
Den Tierhaltern draußen vor dem Landtag reicht das nicht. „Die Wölfe, die sich immer mehr auf Nutztiere spezialisieren scheinen, müssen dringend entnommen werden“, sagt Rehse. Mit „entnommen werden“ meint er den Abschuss. „Wir haben auf Dauer keine Chance, unsere Herden zu schützen. Die Wölfe überwinden die Schutzmaßnahmen“, erklärt Rehse. Das sieht Marc Jacholke genauso. Er ist Weidetierhalter aus Suhlendorf im Landkreis Uelzen mit 100 Rindern, 25 Pferden und 20 Pensionspferden. „Ich will nicht dafür geradestehen, wenn ein junger Familienvater beim Zusammenprall stirbt, weil meine Tiere auf der Flucht vor dem Wolf auf die Straße rennen“ sagt Jacholke innerlich aufgewühlt. Seine Tiere seien schon ausgebrochen und bis kurz vor die Bundesstraße gekommen. „Im Ortskreis sind inzwischen 20 bis 30 Wölfe. Wir fordern, diese Wölfe, die in Siedlungen auftauchen, abschießen zu lassen.“ Für Jacholke wird der Wolf auch zum wirtschaftlichen Problem. „Die Hamburger holen ihre Pensionspferde schon nach und nach weg“, berichtet er.
Den Abschuss von Wölfen sieht Umweltminister Wenzel im Landtag kritisch. Die Aufnahme ins Jagdrecht würde nichts am Schutzstatus des Tieres ändern. Deshalb sollte man davon absehen. „Jeder Jagdpächter müsste dann auch die Hegepflicht gewährleisten. Ich halte nichts davon, die Zuständigkeiten jetzt noch komplizierter zu machen“, so Wenzel. Natürlich sei es möglich, dass auch der beste Zaun versagt. „Wenn eine weitere Steigerung des Herdenschutzes nicht möglich ist oder erfolglos bleibt, ist aber auch jetzt schon eine Entnahme des betreffenden Individuums möglich.“ „Entnahme des betreffenden Individuums“ – er sagt das wirklich so. An anderer Stelle sagt Wenzel, man müsse durch geeignete Herdenschutzmaßnahmen den Wolf daran hindern, mit der Erbeutung von Nutztieren „positive Erfahrungen zu machen“. Es klingt teilweise ein wenig nach Soziologie-Seminar im Landtag.
Draußen vor der Tür, neben der Hütte mit kitschigen Artikeln zur Weihnachtsdekoration, stehen Kinder, die den Weihnachtsmarkt besuchen wollten, derweil vor toten Tieren. Die Tierhalter können mit Wenzels Vorschlägen wenig anfangen. „Wir sind in der Fläche inzwischen nächtlich von Übergriffen betroffen“, sagt Martin Holm vom Bundesvorstand der Mutterkuhhalter. Die Tierhalter fühlen sich überfordert. „Was nützen uns höhere Zäune und noch mehr Material?“, fragt Joachim Rehse vom Landeschafzuchtverband. „Wir sind Familienbetriebe, in denen auch die Frauen mitarbeiten müssen. Die Belastung ist einfach zu hoch. Die Schäfer schlafen jetzt nachts wieder bei ihren Schafen. Das ist kein Leben.“
Im Landtag verteilt Wenzels Pressesprecher derweil Blätter mit Tabellen und Grafiken. „Die Analyse zeigt, dass sich Wölfe in Deutschland zu 92,2 Prozent von Schalenwild ernähren. Nur 0,8 Prozent entfallen auf Nutztiere“, erläutert Wenzel, und die Journalisten auf der Pressetribüne halten die entsprechende Tortengrafik dazu in den Händen. Die Zahl der Schafe und schafhaltenden Betriebe sei wieder deutlich gestiegen. Und die Zahl der Nutztierrisse stagniere, sei in einigen Regionen sogar rückläufig.
„Der Minister operiert nicht mit den korrekten Zahlen“, schimpft dagegen Joachim Rehse. In der Agrarstatistik seien viele kleine Schafhalter mit ihren Tieren gar nicht aufgeführt, lautet ein Vorwurf. Rehse bereiten zudem noch ganz andere Zahlen große Sorgen. „Unser Verband hat eine Umfrage gemacht. Demnach will ein Drittel der Schafhalter nach einem Wolfsangriff aufhören, ein Drittel überlegt es sich und ein Drittel will weitermachen“, referiert Rehse. Für ihn bedeutet das: „50 Prozent der Schafhaltung stehen in Niedersachsen auf der Kippe.“ (MB.)