Am 24. Februar griff Russlands Herrscher Wladimir Putin gegen jede Vernunft und gegen jedes rationale Kalkül die Ukraine an. All die diplomatischen Bemühungen, die in den Tagen zuvor besonders intensiv und rege gewesen sein mussten, stellten sich als erfolglos heraus. Wie stark hat dieses Ereignis die deutsche Gesellschaft erschüttert? Haben wir Lehren daraus gezogen – und, wenn ja, waren es die richtigen Lehren? Wie gut finden wir uns damit ab, dass der Traum von der friedfertigen, nach Vernunft und Toleranz geordneten Welt nun endgültig ausgeträumt ist? Die Rundblick-Redaktion beleuchtet in persönlichen, einordnenden Beiträgen einige Teilprobleme, die sich aus Putins mörderischem Völkerrechtsbruch ergeben. Hier geht’s zum Dossier.

Ein Jahr tobt der Krieg in der Ukraine: Chefredakteur Klaus Wallbaum schreibt über die Auswirkungen auf Deutschland. I Foto: Scheffen, GettyImages/Alexey_Fedoren

Bei der Aufzählung dessen, was seit dem 24. Februar 2022 anders ist in Deutschland, darf eines nicht fehlen: Das Erwachen der Deutschen aus dem Traum von der globalen Friedfertigkeit. Wie war das vor dem 24. Februar gewesen? Wir fühlten uns sicher, nicht weil alle um uns herum nur gute und humanistische Absichten gehabt hatten – sondern weil wir meinten, es gebe doch gar keinen Grund für einen Krieg. Wir ließen uns mit dem Argument beruhigen, dass ein Kriegsherr vor einem Angriff immer rational abwägen würde, dass er Kosten und Nutzen abschätzen und sich dann zwangsläufig gegen den Krieg entscheiden würde. Wir glaubten, dass das wirtschaftlich so starke, mit besten internationalen Handelsbeziehungen ausgestattete Deutschland, das noch dazu stets auf gute Kontakte zu allen größeren Staaten in der Welt baut, sicher sei vor Angriffen von außen. Und wir verdrängten, dass Leute wie Putin eben nur zum Teil rational handeln – aber zum vermutlich größeren Teil von irrationalen Visionen und Großmachtphantasien getrieben sind. Wir meinten: Das wird schon nicht so schlimm kommen, der Putin ist doch ein kluger Mann. Und wir dachten: Gerade uns wird er nichts tun, wir sind doch ein friedliebendes Volk, uns kennt er doch – und wir können doch eigentlich immer noch ganz gut mit ihm. Und dann noch: Wenn man den anderen Mächtigen nur freundlich und gesprächsbereit begegnet, dann reicht das doch schon. Sollen sich die anderen doch nur ein Beispiel an unserer Diplomatie nehmen.

Russland nutzt die Schwächen Deutschlands aus

Das war ignorant und irgendwie typisch deutsch. Die Lebenslüge der deutschen Pazifisten lautet, man könne durch ein fortwährend defensives, immer entgegenkommendes Auftreten die Friedfertigkeit aller anderen erzwingen. Der 24. Februar 2022 hat bewiesen, dass das Böse auch an der Spitze von Großmächten noch stark genug ist – und ständig bereit, unsere eigenen Schwächen gnadenlos zu unserem Nachteil auszunutzen. Ja, auch unsere, auch die der Deutschen. Wir meinten, eine gut gerüstete Bundeswehr gar nicht mehr zu brauchen. Denn erstens sei die Kriegsgefahr sowieso gebannt, zweitens bei uns erst recht. Dahinter steckte der Irrglaube, die kriegerischen Konflikte etwa in Syrien oder im Irak, die Ausbrüche der Gewalt im Nahen Osten oder in Afrika lägen vermutlich daran, dass die Konfliktparteien nicht so zivilisiert miteinander umzugehen pflegen wie wir es doch immer so vorbildlich getan hätten.

„Bei uns laufen immer noch Politiker herum, die diesen Gerhard Schröder für einen großen Staatsmann halten. Welch Peinlichkeit!“

Außerdem waren diese Länder weit weg, was interessierte denn uns das? Dass auch hinter all diesen vielen kleinen, von uns nicht näher beachteten Kriegen ebenso eiskalte Interessen der Russen oder Chinesen steckten, globale Machtinteressen, das kam vielen von uns gar nicht in den Sinn. Wenn Altkanzler Gerhard Schröder der Ukraine noch am 28. Januar 2022 – einen knappen Monat vor Kriegsbeginn – „Säbelrasseln“ vorwarf, dann wurde aus diesen Worten eine widerwärtige Haltung deutlich: In einer Mischung aus Überheblichkeit und Ignoranz – besonders kleinen Staaten gegenüber – wurde von Schröder der kleineren Ukraine signalisiert, sie solle sich den Ausdehnungsansprüchen der größeren Russen nicht entgegenstellen. Und bei uns laufen immer noch Politiker herum, die diesen Gerhard Schröder für einen großen Staatsmann halten. Welch Peinlichkeit!

Autoritäre Mächte wollen andere Staaten destabilisieren

Nun wird es Zeit zur Selbstvergewisserung: Auch wir sind tatsächlich stets und ständig bedroht, auch uns gegenüber sind Großmächte wie Russland und China nicht prinzipiell freundlich gestimmt. Das Gegenteil trifft zu: Die autoritären Mächte haben ein Interesse, uns zu destabilisieren, weil sie die freie, demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaftsordnung verachten und als „schwach“ entlarven möchten. Wie lebt es sich ohne die Illusion, eigentlich nur von Mächten mit guten Absichten umzingelt zu sein? Man muss wachsam sein, in Verteidigung investieren. Man muss zusammenhalten und mit denen kooperieren, die unsere Werte und unsere Gesellschaftsordnung teilen. Man muss bei aller Offenheit für den freien Welthandel beachten, dass man sich nicht von wenigen abhängig macht. Und vor allem muss man den Wert unserer Freiheit schätzen lernen. Wenn man stolz ist auf unseren demokratischen Staat, den freien Diskurs und das Recht, seine eigene Meinung zu sagen – dann schwindet auch die Angst davor, zu diesen Werten zu stehen und sie irgendwann vielleicht auch mit Waffengewalt verteidigen zu müssen. Die Angst vor einem Angriff von außen wird umso größer, je schwächer und angreifbarer wir uns fühlen. Dabei muss uns doch klar sein: Im Wettbewerb der Staatsformen auf der Erde liegt ein Rechtsstaat wie unserer – trotz aller Schwächen – uneinholbar vorn. Das weiß tief in seinem Innern auch einer wie Putin, das weiß auch die chinesische KP. Hitler hatte es damals, kurz vor seinem Ende, wohl auch geahnt.