Wie Experten versuchen, Missbrauchsopfer in Niedersachsen zu Anzeigen zu bewegen
Von Niklas Kleinwächter
Die Scham begleitet die Opfer meist ein Leben lang. Dabei sollten es doch eigentlich die Täter sein, die sich schämen, findet Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza (CDU). Umso erfreuter ist sie, dass die Zahl der Opfer von Missbrauch oder Vergewaltigung, die sich Unterstützung bei der Stiftung Opferhilfe suchen, in den vergangenen Jahren angestiegen ist. „Ich kann nur alle Betroffenen ermutigen, nicht zu schweigen und vor allem, sich nicht zu schämen“, sagt Havliza, die noch aus ihrer Zeit als Richterin das „unermessliche Leid“ der Opfer kenne.
Insgesamt 682 Beratungsfälle im Bereich der Sexualstraftaten verzeichnete die niedersächsische Stiftung Opferhilfe im vergangenen Jahr. Das entspricht nach Angaben des Justizministeriums fast 39 Prozent aller Klienten, die sich bei einer der elf Beratungsstellen in Niedersachsen gemeldet haben, und macht damit die größte Gruppe aus. Die Zahl ist in dieser Deliktgruppe in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. 2017 waren es noch 532 Fälle, im Jahr darauf 593 Fälle. Besonders auffällig sei, so die Ministerin, wie viele Kinder und Jugendliche inzwischen die Hilfe in Anspruch nehmen. Waren es 2017 noch 53 und ein Jahr darauf 58 Kinder, die sich bei der Opferhilfe gemeldet haben, verzeichnete die Stiftung im vergangenen Jahr insgesamt 104 Fälle von Kindern, die sich nach einem sexuellen Missbrauch meldeten.
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Die steigende Zahl der Missbrauchsopfer, die Hilfe suchen, lässt immer wieder die politische Forderung aufkommen, die Verjährungsfrist für solche Fälle auszuweiten. Davon hält die Justizministerin aber nichts. Zum einen könnte so das gesamte Konstrukt der Verjährungen aufgeweicht werden, fürchtet sie. Denn warum sollten dann andere Gewaltdelikte noch nach einer gewissen Zeit keine Strafe mehr nach sich ziehen? Auf der anderen Seite steigt mit der Zeit, die zwischen dem eigentlichen Fall und dem Prozess liegt, die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Prozess scheitert. Die Erinnerung verblasst, die Beweise verlieren ihre Wirkung – und am Ende stehen nur noch Aussage gegen Aussage. Dem Täter geschieht dann nichts, und dem Opfer wird auch nicht geholfen. Im Gegenteil: Die Tat in einem nüchtern-kühlen Gerichtsprozess noch einmal Revue passieren zu lassen, kann sogar das Leid erhöhen.
Besserer Opferschutz anstatt Ausweitung der Verjährungsfrist
Der positive Trend bei den Beratungszahlen der Stiftung Opferhilfe weise nicht zwangsläufig auf gestiegene Fallzahlen bei den Sexualdelikten hin, erklärt Havliza. Vielmehr verdeutliche dieser, dass immer mehr Opfer bereit seien, ihr Schweigen auch zu brechen. Warum das so ist, könne sie nicht sicher beantworten, sagt die Ministerin. Ein Grund sei vermutlich, dass in den Medien immer offener über solche Fälle berichtet werde. Das Thema erfahre damit einen Tabubruch, der es den Opfern leichter mache, die Tat anzuzeigen.
Aber auch der Umstand, dass sich die Hilfeangebote gebessert haben, sei sicher ein weiterer Grund, so Havliza. Die Opferhilfe in Niedersachsen setzt deshalb darauf, die betroffenen Menschen frühzeitig in eine Position zu bringen, in der sie sich Hilfe suchen und den Fall zur Anzeige bringen können. Das sei besser, als die Verjährungsfrist auszuweiten, sagt auch Susanne Wolter, Leiterin des Referats für Opferschutz im Justizministerium und damit auch Geschäftsführerin des Landespräventionsrates.
Ich kann nur alle Betroffenen ermutigen, nicht zu schweigen und vor allem, sich nicht zu schämen.
Niedersachsen ist nach Angaben der Justizministerin bei der Begleitung von Opfern im Vergleich zu anderen Bundesländern besonders weit. Zwar gebe es auch anderswo eine psycho-soziale Prozessbegleitung. Doch in Niedersachsen ist diese kostenlos und wird auch unabhängig vom Alter des Opfers oder der Art des Deliktes gewährt. Durch die Stiftung Opferhilfe, die mit einem Stiftungsvermögen von einer Million Euro haushaltet, habe Niedersachsen zudem ein weiteres Alleinstellungsmerkmal. Besonders an dieser Stiftung sei nicht zuletzt, dass dort nur mit Fachleuten gearbeitet wird. Statt auf die zwar wertvolle aber in diesem Fall auch riskante Arbeit von ehrenamtlichen Helfern zurückzugreifen, wie das bei der Opfer-Hilfsgruppe „Weißer Ring“ der Fall ist, setzt die Stiftung Opferhilfe auf Sozialarbeiter.
Die professionellen Ansprechpartner seien oft in der Lage, die Mauer des Schweigens aufzubrechen, erläutert Havliza. Außerdem seien die Berater besser darin geschult, die Opfer nicht durch suggestive Frage zu beeinflussen. Es bestehe nämlich die Gefahr, dass durch Beratungsgespräche die Aussagen der Betroffenen verfälscht werden, was schließlich in einem Gerichtsprozess auffallen und diesen gefährden könnte. Die Experten schafften es, dass die Aussagen der Opfer aber weiterhin unverbraucht bleiben. Eine wichtige Aufgabe der Fachleute ist es auch, die Opfer darauf vorzubereiten, dass ihr Fall vor Gericht womöglich scheitern kann. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, die Tat werde nicht ernst genommen. Oder das Opfer macht sich selbst Vorwürfe, weil die Aussagen nicht detailliert oder eindeutig genug waren. In solchen Situationen gehe es dann darum, den Betroffenen zu vermitteln, dass es weder ihre Schuld war, dass kein entsprechendes Urteil gefällt wurde, und dass ihr Leid deshalb trotzdem anerkannt wird.
Opferschutz-Experten beraten auch bei der Beweissicherung
Um die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Prozesses zu erhöhen, vermeiden die Opferschutz-Experten nicht nur suggestive Nachfragen. Sie helfen auch schon zu einem frühen Zeitpunkt bei der gerichtsfesten Beweissicherung. Denn es kann vorkommen, dass Opfer erst sehr spät den Mut zu einer Anzeige finden, berichtet Susanne Wolter. In solchen Fällen sorgen die Fachleute dafür, dass Beweise zunächst sicher abgelegt und dokumentiert werden. So werden etwa Spermaspuren, Fotodokumente oder die Nachwirkungen von Gewalttaten so gesichert, dass sie später auch noch vor Gericht verwendet werden können. Hausärzte seien dazu häufig nicht in der Lage.
An einer Stelle könnte der Opferschutz in Niedersachsen aber noch besser werden, findet auch Havliza selbst. Zwar gibt es mittlerweile neben dem telefonischen Weg auch die Option, sich online beraten zu lassen. Aber die Öffnungszeiten der Beratungsstellen erinnern eben doch an die einer Behörde. Für einen Notfall-Dienst rund um die Uhr müsste wohl über eine Aufstockung der Stellen nachgedacht werden.