Wie die CDU versucht, im Moment der Niederlage eilig Fakten zu schaffen
Manche reden von Machtkampf, aber das ist vermutlich übertrieben. Das Wort „Generationswechsel“ trifft es schon besser. Am Abend des 9. Oktober, als sich für die Christdemokraten die schlimmsten Befürchtungen zum Wahlergebnis erfüllt hatten, richteten auf den verschiedenen Treffen der CDU viele Teilnehmer den Blick kurzentschlossen nach vorn: Sebastian Lechner, der Generalsekretär, sei nun der Mann der Zukunft, hieß es. Lechner müsse jetzt die CDU wieder aufrichten. Er müsse Fraktionschef werden. Manche fügten gleich hinzu: Er müsse dann auch der nächste Landesvorsitzende werden.
Fraktionschef Lechner war mitverantwortlich für Wahlschlappe
War das nicht vielleicht alles ein bisschen zu schnell? „Handstreichartig“, wie einige meinen? „Uns fehlte bisher der Moment des Innehaltens und Wundenleckens“, sagt einer, der die CDU Niedersachsen lange und gut kennt. Denn ausgerechnet Lechner, der Generalsekretär, war ja doch mindestens mitverantwortlich für die herbe Wahlschlappe bei dieser Landtagswahl. Die Werbekampagne, die Zuspitzung der Themen, die Auswahl der Angriffspunkte und die Konzentration auf bestimmte Botschaften – all das war Lechners Aufgabe. Ist es also sinnvoll, dem Meister der Niederlage die Führung für die Zukunft anzuvertrauen? Die erste Hürde, nämlich die Wahl in der Landtagsfraktion, schaffte der 41-jährige Lechner zwei Tage nach dem Wahlabend bravourös. Die weiteren Dinge entwickeln sich erst noch.
Klar scheint zu sein, dass Lechner in der Partei und der Landtagsfraktion einen großen Kreis an Anhängern und Unterstützern hat. Sie verweisen auch darauf, dass die Hauptgründe für die Niederlage nicht in Fehlern der eigenen Kampagne zu suchen seien, obwohl es diese zweifellos gebe, sondern in der schwierigen Ausgangssituation: Spitzenkandidat Bernd Althusmann habe es eben trotz aller Versuche nicht geschafft, an die Beliebtheitswerte von Weil heranzurücken. Das stimmt. Es stimmt aber auch, dass die CDU bis zuletzt konsequent darauf verzichtet hat, im Wahlkampf Weil direkt anzugehen und auf dunkle Flecken in der SPD – Stichwort Moskau-Connection – hinzuweisen. Auch die wenig konsequente Vermarktung von Althusmanns Modell eines Energiepreisdeckels geht auf das Konto von Lechner. Die CDU unterließ es, Weil im Wahlkampf mit solchen Themen vor sich herzutreiben und die große Keule zu schwingen. Vielleicht in der irrigen Annahme, der Frust vieler Leute über die Handlungsunfähigkeit der Ampel in Berlin sei schon Grund genug für sie, diesmal bei der CDU ihr Kreuz zu machen?
„Die Reihenfolge stimmt nicht. Wir brauchen erst eine schonungslose Fehleranalyse, danach den Neuanfang.“
Am Freitag tagte drei Stunden lang die Konferenz der Kreisvorsitzenden, und mehrere dort übten Kritik an den bisherigen Abläufen, sie zeigten sich überrascht vom plötzlichen Aufstieg Lechners in der Landtagsfraktion und davon, dass Lechner nun die starke Figur der Niedersachsen-CDU werden solle. Das alles geschah maßvoll und sachlich. Dabei klang bei einigen Christdemokraten in den Tagen zuvor sogar der Verdacht an, Lechner könne den Wahlkampf in Erwartung späterer Aufgaben halbherzig geführt haben. „Die Reihenfolge stimmt nicht“, meint ein Teilnehmer der Sitzung am Freitag, „wir brauchen erst eine schonungslose Fehleranalyse, danach den Neuanfang. Nicht erst den Neuanfang und irgendwann später dann eine Aufarbeitung.“ Andere Teilnehmer forderten eine „Mitgliederbefragung“ für den neuen Parteivorsitz, wobei diese voraussetzt, dass es mehrere Bewerber für diesen Posten gibt. Sogar JU-Bundeschef Tilman Kuban, ein Anhänger Lechners, soll für diesen Weg plädiert haben.
Wird Lechner auch CDU-Landesvorsitzender?
Bisher liegt nicht eine einzige Kandidatur vor, spekuliert wird allerdings viel, etwa über die resolute CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann aus Leer. Die einen meinen, Lechner solle beide Funktionen wahrnehmen und damit unumstrittene Leitfigur der CDU werden. Die anderen entgegnen, für den Übergang in die Oppositionsphase und zum Streicheln der geschundenen Seele der CDU sei jetzt eine ältere Person erforderlich – jemand, der seine Aufgabe darin sieht, die verschiedenen Lager zusammenzuführen. Justizministerin Barbara Havliza etwa soll sich in der Freitag-Sitzung sinngemäß gegen einen „Jugendwahn“ ausgesprochen haben.
Aufgabe des nächsten CDU-Landesvorsitzenden wird es aber auch sein, die Defizite der CDU aufzuarbeiten. Sie stauen sich schon seit vielen Jahren an und sind auch eine Erklärung für das schlechte Wahlergebnis. Warum büßte die CDU in Befragungen verglichen mit 2017 an Wirtschaftskompetenz ein, in einer Zeit, in der Althusmann Wirtschaftsminister war? Warum hat die Partei keinen Zugang zu den Gewerkschaften, den Sozialverbänden und auch den Kirchen mehr? Warum fremdelt sie mit dem großstädtischen, liberalen Milieu? Warum wirkt die CDU stockkonservativ und eher abstoßend auf viele jüngere, vor allem auf Frauen? Viele von ihnen setzen inzwischen „links“ mit „modern“ gleich – und das dürfte auch ein Versäumnis der CDU sein. Warum können sich Gewerkschaftsführer ohne schlechtes Gewissen vor den Karren einer Wahlkampagne für die SPD spannen lassen? Antwort: Weil sie kaum noch jemanden von der CDU kennen. Deshalb sehen sie in ihrem Dunstkreis auch keinen, der ihnen das übel nehmen könnte.
„Generationswechsel“ im Landtag bedroht ältere Riege
Für diese Integrationsfigur, die neben Lechner an der Spitze der CDU stehen könnte, werden verschiedene Namen genannt – so die bisherige Agrarministerin Barbara Otte-Kinast, der Empathie und Popularität bescheinigt wird, aber auch mehrere Bundestagsabgeordnete wie etwa Connemann. Dass Politiker aus Berlin gerade ins Gespräch kommen, hat noch mit einem anderen Umstand zu tun: In der Bundestagsgruppe der CDU wird schon seit Wochen als Alarmsignal verstanden, dass im Landtag in Hannover „die Jüngeren“ in der CDU dabei seien, „die Macht an sich zu reißen“ oder gar „zu putschen“. Die aus solchen Worten resultierende Aufregung hängt damit zusammen, dass auch die Riege der CDU-Bundestagsabgeordneten aus Niedersachsen ihre Position bedroht sieht. Wer immer künftig an der Spitze der Landespartei steht, hat nämlich entscheidenden Einfluss auf die nächste CDU-Landesliste für die Bundestagswahl, die vermutlich 2025 sein wird. Mittlerweile muss die CDU mit weniger Mandaten als früher rechnen, und so kommt es verstärkt auf die Reihenfolge der Platzierung auf der Landesliste an. Konkret geht es etwa um die Frage, ob der bisherige JU-Bundesvorsitzende Tilman Kuban, der bei der Bundestagswahl 2021 Platz sieben hatte, diesen dann noch einmal bekäme – denn den JU-Bundesvorsitz muss er aus Altersgründen bald abgeben.
Muss Hendrik Hoppenstedt, 2021 Platz eins der Landesliste für die Bundestagswahl, um diese Position bangen? Kuban und Hoppenstedt kommen beide aus der Region Hannover. Diskutiert wird auch, ob einige neue Bewerber, etwa im Osnabrücker Raum, die bisherigen Amtsinhaber verdrängen könnten. Will Christian Calderone in die Bundespolitik wechseln? Bis zur Klärung all dieser Fragen ist zwar noch Zeit, aber die Vorgänge im Landtag, allesamt unter der Überschrift „Generationswechsel“, werden von vielen älteren in der CDU schon als eine Art Bedrohung ihrer Machtposition empfunden. Wieder andere indes sehen in einem Bruch mit den alten Führungseliten die einzige Chance einer wirklichen Erneuerung. Und die sei angesichts eines so dramatisch schlechten Wahlergebnisses der CDU wie bei dieser Landtagswahl nicht nur geboten, sondern schon überfällig.
Bis zum 4. November, wenn der „kleine Landesparteitag“ in Walsrode ist, sollen die acht Bezirksvorstände der CDU Kandidaten für den Landesvorsitz nennen können. Die Bezirksverbände, nicht – wie es auch möglich gewesen wäre – ebenso die Kreisvorstände. Wenn es mehr als einen Bewerber geben sollte, muss der „kleine Parteitag“ über eine Mitgliederbefragung abstimmen. Wenn es nur einen Bewerber gibt, entfällt diese Variante. Die Neuwahl des nächsten CDU-Landeschefs wird dann für einen Landesparteitag am 21. Januar angestrebt.
Dieser Artikel erschien am 17.10.2022 in der Ausgabe #182.
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