Wo Politiker und Verwaltungen unter großem Druck schnell entscheiden können, passieren auch Fehler. Aber manche davon sind verzeihlich, andere weniger. Das, was am vergangenen Wochenende für das Verhalten in den Wohnungen vorgeschrieben und dann gleich wieder in Frage gestellt wurde, gehört eher zu der zweiten Kategorie. Geschehen ist folgendes: Am Freitag, 3. April, wurde die – schon Tage zuvor angekündigte – Rechtsverordnung des niedersächsischen Sozialministeriums „über die Beschränkung sozialer Kontakte“ erlassen und danach im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht.

Eigentlich sollte das nur eine Formsache sein. Doch dann war darin eine erhebliche Verschärfung der bisher geltenden Verbote enthalten, so sollten Kontakte in der eigenen Wohnung „auf die Angehörigen des eigenen Hausstandes beschränkt“ werden – mit wenigen sehr eng umrissenen Ausnahmen. Kurze Zeit später kündigte Sozialministerin Carola Reimann an, diese Verschärfung wieder zu kippen. Was war passiert?

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Die neue Verordnung vom Freitag sprach sich am Sonnabend herum – und sie löste im Krisenstab der Landesregierung ein wahres Erdbeben aus. Hatte doch der Leiter des Krisenstabes, Sozial-Staatssekretär Heiger Scholz, noch wenige Tage zuvor in der Landespressekonferenz erklärt, die Veränderungen in der neuen Verordnung, verglichen mit der ursprünglich erlassenen „Allgemeinverfügung“, beträfen nur wenige Details, so werde etwa hinter „Öffentlicher Personen-Nahverkehr“ nun die Abkürzung ÖPNV eingefügt. Tatsächlich kam es anders. In der „Allgemeinverfügung“ vom 22. März hieß es noch: „Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstandes sind auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren.“ Dies ließ Treffen auch mit Freunden in der eigenen Wohnung zu, das „absolut nötige Minimum“ bot Gelegenheit, in jedem Einzelfall abzuwägen.

In der Regierung glühten die Telefondrähte

Der Verordnungstext enthielt dagegen folgenden neuen Passus: „Kontakte innerhalb der eigenen Wohnung und auf dem eigenen Grundstück sind auf die Angehörigen des eigenen Hausstandes beschränkt, soweit nicht die Voraussetzungen des Paragraphen 3 vorliegen.“ Im Paragraphen 3 ist dann der Besuch bei Lebenspartnern, Alten und Kranken erwähnt. Dass jemand enge Freunde oder auch woanders lebende Angehörige zuhause empfängt, war nach dem Text dieser neuen strengen Verordnung nicht mehr erlaubt. Als das die Runde machte, habe Ministerpräsident Stephan Weil deutlich gemacht, dass er das so nicht wolle, erklärte Scholz gestern vor der Landespressekonferenz.

Wenn Sozialministerium und Staatskanzlei die eigenen Rechtsvorschriften unterschiedlich auslegen, wie kann die Polizei dann im Zweifelsfall diese Vorgaben mit der nötigen Autorität umsetzen?

Zuvor hatte es offenbar regen Austausch von Mails und Telefonaten in der Regierung am Wochenende gegeben. Es heißt, die Infektionsschutz-Experten des Sozialministeriums hätten das äußerst strenge Kontaktverbot schon seit Erlass der „Allgemeinverfügung“ am 22. März so interpretiert und mit der neuen Formulierung jetzt nur eine Klarstellung bezweckt. Das aber habe die Staatskanzlei, hier vor allem Regierungssprecherin Anke Pörksen und danach auch Weil selbst, ganz anders gesehen. Die Staatskanzlei habe nie ein totales Kontaktverbot gewollt und das auch nicht aus den bisherigen Vorgaben herausgelesen. Sie wolle „nicht einsame Menschen in die Isolation treiben“.

In der Regierung glühten die Telefondrähte, anschließend verschickte Sozialministerin Reimann am Sonnabendnachmittag eine Presseerklärung, in der sie die eigene Verfügung in diesem Punkt als „zu weitgehend“ bezeichnet und eine „zeitnahe Änderung“ ankündigt. Besuche von engen Freunden, Familienangehörigen und Lebenspartnern sollten selbstverständlich wieder erlaubt werden, nur Feiern in der eigenen Wohnung nicht.

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Der Schaden in der Kommunikation war da schon immens: Wenn Sozialministerium und Staatskanzlei die eigenen Rechtsvorschriften unterschiedlich auslegen, wie kann die Polizei dann im Zweifelsfall diese Vorgaben mit der nötigen Autorität umsetzen? Es heißt, nach Reimanns Presseerklärung am Sonnabend hätten im Netz schon die ersten Aufrufe zu Partys kursiert. Die Polizei berichtete aber am Sonntag, dass von einem Dammbruch nach dem Wirrwarr um die Verordnung nicht die Rede sein könne – die große Masse bewege sich nach wie vor sehr diszipliniert und habe großen Respekt vor den Einschränkungen. Das Verständnis dafür sei sehr ausgeprägt.


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Zwischenzeugnis für das Krisenmanagement der Landesregierung


Dennoch sind mit diesen Vorkommnissen erste Risse im Krisenmanagement deutlich. Die Regierungssprecherin, selbst Juristin, stieß offenbar auf die verschiedenen Interpretationen von Staatskanzlei und Sozialministerium. Wäre das nicht Aufgabe der Fachjuristen aus beiden Ressorts gewesen – trotz des Zeitdrucks, der eine gründliche Prüfung erschwert?

Wie es heißt, soll der Krisenstab ab sofort durch mehrere Juristen verstärkt werden. Der Mangel sei entstanden, weil derzeit viele Fachleute im Homeoffice seien und damit vom Alltagsgeschehen etwas abgekoppelt. Eine andere Frage ist, wieso die Haltung des Sozialministeriums, der prägenden Instanz im Krisenstab, ungebremst den Weg in die neue Verordnung finden konnte. Hatte es nicht noch vor den Schulschließungen geheißen, der Krisenstab sei nur eine beratende Instanz und die Entscheidung fälle die Regierung selbst?

Nun drängt sich der Eindruck auf, dass Ministerpräsident Stephan Weil, der sonst stets jedes Detail im Blick haben will, hier zu wenig gesteuert und den Krisenstab allein gelassen hat. Als es darum ging, dass die Bau- und Pflanzenmärkte wieder öffnen sollten, hatte sich vor allem der Koalitionspartner CDU gegen starke Bedenken des Sozialministeriums durchgesetzt. Im Hin und Her zu dieser Verordnung wirkt es so, als hätten die Infektionsschützer sich mit einer scharfen Bestimmung gerächt – und als hätten sie anschließend dafür prompt von der Staatskanzlei die Quittung erhalten. Geordnetes Verwaltungshandeln sieht wohl anders aus. (kw)