Wer vertritt wen? Das Hauen und Stechen um die Reform der Landtagswahlkreise
Von außen betrachtet ist es eigentlich kein Hexenwerk, sondern ausgesprochen simpel: 87 Landtagswahlkreise hat Niedersachsen, und die gesetzliche Vorgabe ist, dass die Bevölkerung in keinem davon um mehr als 25 Prozent vom Durchschnittswert abweichen darf. Tatsächlich sind aber die Ungleichgewichte da – ein Wahlkreis im Süden, Einbeck, liegt deutlich unter der Grenze, zwei im Norden, Lüneburg und Osterholz, liegen deutlich darüber. Also könnte man das Problem lösen, indem man im Norden des Landes einen zusätzlichen Wahlkreis schafft und dafür im Süden einen wegnimmt. Unterm Strich bliebe es bei 87 Wahlkreisen. Das klingt sehr einfach, aber es ist so kompliziert, dass die SPD/CDU-Koalition seit Monaten keine Lösung hinbekommt. „Jede Idee stößt vor Ort sofort auf erbitterten Widerstand“, sagt ein Beteiligter.
Nach Rundblick-Informationen soll jetzt trotzdem der gordische Knoten endlich durchgeschlagen werden – idealerweise schon zu Beginn der kommenden Woche. Tatsächlich herrscht Not: Frühestens Mitte Dezember könnte der Landtag die neue Einteilung dann beschließen, und schon im Januar wollen die Parteien beginnen, in den Wahlkreisen ihre Kandidaten aufzustellen. Das ist bei ihnen dann der erste Schritt, es schließen sich danach Vorgespräche für die Landeslisten an, Delegiertenversammlungen und Parteitage – und bis spätestens 1. August müssen alle Kandidaturen stehen.
Kein Zuschnitt der Wahlkreise macht Ergebnis der kommenden Landtagswahl anfechtbar
Wenn man nun die Wahlkreise nicht neu schneiden würde, hätte das gravierende Konsequenzen: Jeder Wähler könnte das Ergebnis der Landtagswahl vom 9. Oktober 2022 anfechten – und die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahl wegen der Ungleichgewichte in den Landtagswahlkreisen für ungültig erklärt wird, wäre nicht gering. Darauf hat schon 2019 die Landeswahlleiterin hingewiesen, und im Mai noch einmal eindringlich der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst des Landtags. „Es ist höchste Zeit“, hieß es damals. Das liegt nun auch schon sechs Monate zurück, ohne dass die Koalition sich schon auf ein Konzept verständigt hätte. Unweigerlich kommt die Sache nun kommenden Dienstag auf die Tagesordnung des Landtags, denn die FDP hat einen eigenen Antrag vorgelegt. Der allerdings gilt innerhalb der Großen Koalition als „unannehmbar“, denn er würde sogar zehn Wahlkreise verändern und dort die Grenzen neu ziehen. Das sei, heißt es in der Koalition, zu viel Arbeit im Detail – und würde noch viel mehr Ärger als jetzt schon heraufbeschwören.
Tatsächlich nämlich steckt bei keinem Thema der Teufel stärker als hier in den Einzelheiten: Das fängt schon im Norden an, wo die Stadt Lüneburg einen zweiten Wahlkreis bekäme – fünf Gemeinden aus den Kreisen Lüneburg und Lüchow-Dannenberg müssten zusammengezogen werden, außerdem vielleicht noch eine Kommune aus dem Kreis Uelzen. Das aber dürfte zumindest in Uelzen schon Stirnrunzeln auslösen: Sollen sich einige Bürger aus ihrem Kreis künftig an einen Lüneburger Abgeordneten wenden müssen, wenn sie in Hannover etwas erreichen wollen?
Wahlkreise Northeim und Einbeck verschmelzen: SPD ist gegen Vorschlag der CDU
Noch schwieriger scheint diese Debatte im Süden des Landes zu sein. Der erste, offenbar auch von der CDU unterstützte Vorschlag lautete, die Wahlkreise 18 (Northeim) und 19 (Einbeck) zu verschmelzen. Das an sich wäre wohl noch hinnehmbar, obwohl beide Städte seit den Tagen der Kreisreform eine Rivalität gegeneinander pflegen. Northeim ist Kreisstadt, Einbeck wäre es gern geblieben. Aber, sei’s drum, beide könnten wohl miteinander. Die Folge einer Fusion der Wahlkreise wäre nur, dass Dassel und Uslar dann ausgegliedert und Holzminden (20) angeschlossen werden müssten, Kalefeld dem Wahlkreis Seesen (13). Nun haben aber die Dasseler und Uslarer Sorge, dass ein Abgeordneter aus Holzminden ihre Interessen nicht so gut vertreten könnte wie der heimische aus Einbeck, zumal die Holzmindener in ihrem eigenen Landkreis politisch organisiert sind. Ein Abgeordneter, der von Holzminden geprägt ist, könnte Dassel und Uslar rasch aus dem Auge verlieren. Deshalb erklärte der SPD-Politiker Uwe Schwarz sehr früh, dieses Modell komme für ihn „nicht in Betracht“. Er ist einer der wenigen, die sich in dieser Sache klar hervorwagten.
Probleme bei Goslar-Lösung: Fusionierter Wahlkreis wäre auch zu groß
Das war vor allem ein Signal an die SPD, denn inzwischen wird ein Modell heiß diskutiert, das anfangs gar nicht auf dem Plan der SPD-Spitze war: Man könnte Nummer 19 (Einbeck) bestehen lassen und stattdessen die Wahlkreise 13 (Seesen) und 14 (Goslar) miteinander verschmelzen. Dass hier sowieso gehandelt werden müsste, liegt an einem besonderen Umstand. Langelsheim, das zum Wahlkreis Goslar gehört, fusionierte 2018 mit Lutter, das im Wahlkreis Seesen liegt. Dem Grundsatz folgend, dass eine Gemeinde nicht auf zwei Wahlkreise aufgeteilt werden soll und der kleinere Teil immer dem größeren folgt, müsste der Wahlkreis Seesen also die neue Stadt Langelsheim-Lutter an den Wahlkreis Goslar abtreten. Nur würde dies dazu führen, dass auch der Wahlkreis Seesen – wie der in Einbeck – unter den Durchschnittswert rutscht. Mit anderen Worten: Handlungsbedarf ist im Raum Goslar ohnehin vorhanden.
Aber auch hier würde eine auf den ersten Blick naheliegende Lösung, die Verbindung von 13 und 14 zu einem einzigen Wahlkreis, wieder einen Rattenschwanz an Problemen nach sich ziehen. Ein fusionierter Wahlkreis aus Goslar und Seesen wäre auch wieder zu groß. Es müssten also Randbereiche abgeschnitten und verlagert werden – Teile zum Wahlkreis 12 (Göttingen-Harz), Teile nach 19 (Einbeck), um diesen bevölkerungsschwachen Wahlkreis aufzupäppeln, Teile auch nach 18 (Northeim). Dies gefiele jenen Gemeinden im Landkreis Goslar nicht, die dann von einem Abgeordneten vertreten werden müssten, der sein Schwergewicht im Landkreis Northeim oder im Kreis Göttingen hat. Da nun die Goslarer eine starke Lobby in der Landesregierung haben, wie auf den Landtagsfluren erzählt wird, kam diese Idee zunächst gar nicht auf den Tisch. Mit „starker Lobby“ ist Innen-Staatssekretär Stephan Manke (SPD) gemeint, der früher selbst Landrat in Goslar war.
Dritte Variante: Wahlkreis Duderstadt auflösen und aufteilen
Die Goslar-Lösung, die zwischenzeitlich als Favorit galt und es möglicherweise auch noch ist, hat aus SPD-Sicht noch einen anderen erheblichen Nachteil: Wenn Teile des Wahlkreises Seesen künftig dem Wahlkreis Göttingen-Harz zugeschlagen würden, wäre der SPD-Bezirk Braunschweig, zu dem Goslar zählt, geschwächt – denn Göttingen gehört zum SPD-Bezirk Hannover. Für Außenstehende ist das nur eine nachrangige Verwaltungsfrage, für manche in der SPD aber, in der die Bezirksgrenzen immer auch die Zuordnung zu einer politischen Heimat bedeuten, sind solche Themen im höchsten Maße emotional.
Diskutiert wird noch eine andere Variante: Man könnte die schwarze Hochburg im Süden, den Wahlkreis Duderstadt (15), auflösen und auf die angrenzenden Wahlkreise verteilen. Doch die SPD-Direktkandidaten der Wahlkreise 12 (Göttingen-Harz) und 16 (Hannoversch Münden) sollen wenig begeistert auf diese Idee reagiert haben – denn sie würden auf ihrem Gebiet womöglich einige CDU-dominierte Gemeinden bekommen, die das Blatt am Wahltag in ihrem Wahlkreis zugunsten der Christdemokraten wenden könnten. Außerdem ist diese Lösung auch nur begrenzt sinnvoll, denn das Ursprungsproblem, die viel zu kleine Einwohnerzahl im Wahlkreis Einbeck, ließe sich so auf keinen Fall lösen. Damit bleibt die Sache höchst verzwickt und kompliziert. Allein der Zeitdruck für die Koalition sorgt jetzt dafür, dass eine Lösung naht – womöglich auch diejenige, die den Koalitionären am wenigsten schlecht erscheint. Denn ein gutes Modell gibt es offenbar nicht.
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