Darum geht es: Ist das Verhalten von Elke Twesten, die ihre Partei verlassen, das Landtagsmandat behalten und so die rot-grüne Mehrheit zum Einsturz gebracht hat, „unanständig“ oder gar „undemokratisch“, wie es vor allem von Vertretern der SPD hieß? Ein Kommentar von Klaus Wallbaum.

Ja, Elke Twesten hat die Loyalität gebrochen. Sie ist – relativ überraschend – aus der Solidarität der rot-grünen Gemeinschaft im Landtag ausgeschert und hat sich dem anderen politischen Lager angeschlossen. Das empfinden viele zu Recht als Vertrauensbruch – und sind massiv verärgert. Die SPD in Niedersachsen, stärker noch als die Grünen, schimpft über angeblichen Verrat, spricht von einem „schäbigen“ und „unanständigen“ Verhalten. Diese Reaktionen klingen nicht gespielt, sondern nach echter Empörung – und die Begründung dafür kann in der jüngsten Geschichte der Niedersachsen-SPD gesucht werden.

Vor 41 Jahren waren es Überläufer im Landtag, die zum Sturz der SPD/FDP-Regierung und zum Aufstieg der CDU unter Ernst Albrecht geführt haben. Diese Abweichler aus den Reihen von SPD oder FDP outeten sich nicht, ein Klima gegenseitiger Verdächtigungen und Mutmaßungen nagte jahrelang am Selbstbewusstsein der SPD, die das Trauma von 1976 immer noch nicht verwunden hat, wie einige völlig überzogene Reaktionen auf Twestens Entscheidung zeigen.

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Die SPD-Fraktionsvorsitzende Johanne Modder nannte das Verhalten der Abgeordneten sogar „undemokratisch“. Da stellt sich die Frage nach dem Demokratieverständnis. Hätten wir ein „imperatives Mandat“, wie es in Räterepubliken üblich ist, dann läge Modder richtig. Abgeordnete sind in diesem Verständnis nur der verlängerte Arm der Parteien, die sie in das Parlament entsandt haben. Bei der Linkspartei gibt es dieses Denken, entlarvend ist deren Leitspruch: „Die Partei führt die Fraktion.“

Auch bei den Grünen gab es in ihren Anfängen derartige Überlegungen, als über die Rotation von Abgeordneten nach der Hälfte der Wahlperiode nachgedacht wurde. Doch derlei Staatstheorien sind in der deutschen Wirklichkeit Grenzen gesetzt. Tatsächlich gibt es in der Bundesrepublik und in Niedersachsen das „freie Mandat“, das auch in Artikel 12 der Landesverfassung verankert ist: Abgeordnete sind „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“, heißt es dort. Die dahinterliegende Vorstellung ist, überspitzt gesagt, diese: Wer einmal ein Mandat im Parlament erlangt hat, ist als Volksvertreter völlig frei – ganz gleich, auf welche Weise er den Weg dahin geschafft hat.

Jeder, der jetzt über Twesten richten und sie moralisch verurteilen möchte, bewegt sich auf sehr dünnem Eis

Die Wirklichkeit sieht anders aus, und man mag das Postulat vom „freien Mandat“ als praxisfern bezeichnen, da die Abläufe von Fraktionsdisziplin geprägt sind. Tatsächlich wäre eine geordnete Gesetzgebung wohl kaum vorstellbar, wenn jeder Abgeordnete, der in einer Einzelfrage eine abweichende Meinung hat, Gewissensgründe vorschieben und aus der Mehrheitslinie ausscheren würde. Deshalb gibt es in der Praxis einen Kompromiss zwischen Freiheit und Loyalität. Das Spannungsverhältnis wird markiert durch Twesten auf der einen Seite, die ihre abweichende Haltung zu vielen Sachfragen sogar in einem Austritt aus der Fraktion gipfeln lässt.

Auf der anderen Seite steht ein Politiker wie Hannovers früherer Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg, der 1996 im Landtag für eine von ihm selbst zuvor jahrelang bekämpfte Reform der Kommunalverfassung stimmte. Er tat dies, weil ohne sein Ja-Wort der Reformplan der damaligen SPD-Alleinregierung gescheitert wäre. Schmalstieg ordnete seine eigene Haltung dem Machtinteresse seiner Partei unter. Das ist ein Weg, den die Verfassung so nicht vorsieht.

Die Grünen auf unterschiedlichen Wellenlängen

Jeder, der jetzt über Twesten richten und sie moralisch verurteilen möchte, bewegt sich auf sehr dünnem Eis. Die Behauptung, die Grünen-Politikerin hätte keine sachlichen Gründe für ihren Wechsel gehabt, ist unwahr. Sie selbst hat viele Beispiele für die Entfremdung zu ihrer Partei angeführt – es waren Hinweise, dass der Linkstrend im Grünen-Landesverband Realpolitikern wie ihr kaum noch Gestaltungsmöglichkeiten gelassen hat, wie es dann ja auch bei der gescheiterten Kandidatenaufstellung deutlich wurde.

Beide Seiten, Grünen-Fraktionsführung und Twesten, berichten über Gespräche in den vergangenen Monaten. Doch man hat den Eindruck, dass die Vorstandsmitglieder hier und die Abgeordnete dort auf unterschiedlichen Wellenlängen sendeten, dass man zwar miteinander redete, sich aber nicht verstehen konnte. Wenn man Twesten daraus einen Vorwurf macht, muss man ihn gleichzeitig auch an die Vorsitzende Anja Piel und den Parlamentarischen Geschäftsführer Helge Limburg richten.

Und wie steht es um die angeblichen „persönlichen und egoistischen Motive“ von Twesten? Dass sie am Landtagsmandat festhalten wolle, um ein geregeltes Einkommen zu haben, kann man ihr nicht unterstellen, denn die Umstände widersprechen dem Verdacht. Ihr Schritt verkürzt die Wahlperiode, damit endet eben auch ihr Mandat viel schneller. Dass die CDU ihr einen Job versprochen hätte? Die Akteure bestreiten es, und Twestens Ankündigung, sich bei künftigen Wahlen in der CDU um Kandidaturen bemühen zu wollen, ist so unverbindlich wie legitim. Bliebe der Vorwurf, Twesten verfälsche den Wählerwillen, weil sie für die Grünen über die Landesliste ins Parlament kam und mit dem Fraktionswechsel jetzt den Wählerwillen (wie er sich im Zweitstimmenergebnis ausdrückt) verfälsche. Das ist prinzipiell zutreffend, aber unter den konkreten Bedingungen nicht überzeugend. Twesten handelt nicht zu Beginn und nicht in der Mitte, sondern zum Ende der Wahlperiode. Tatsächlich bewirkt die politische Lawine, die sie ausgelöst hat, dass einige Gesetzentwürfe nicht mehr beschlossen werden.

Aber weil diese – zumeist rechtlich problematischen –  Vorhaben ohnehin viel zu spät von der Regierung ans Parlament gegeben wurden, war ihr Schicksal sowieso ungewiss. Aus alle dem folgt, dass der Schritt der Grünen-Politikerin vor allem symbolische Bedeutung hatte – und auch Ausdruck des Protests gegen eine verhärtete Umgangskultur bei den Grünen war. Vielleicht ein Hilferuf, weil sie sonst nicht glaubte, noch Gehör finden zu können. Das mag man kritisieren, moralische Verurteilungen jedoch sind absolut unangebracht.

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