Weg mit der Zwei-Klassen-Gesellschaft!
Das Landesamt für Statistik hat in einem gestern veröffentlichen Beitrag Daten aus dem Jahr 2016 über die Lebensverhältnisse von Migranten in Niedersachsen zusammengestellt. Ein Kommentar von Isabel Christian.
Schon lange ist es gefühlte Wahrheit, nun ist es amtlich: Migranten haben es in nahezu allen Lebenslagen in Niedersachsen schwerer als Menschen ohne Migrationshintergrund. Sie sind schlechter ausgebildet, haben schlechter bezahlte Jobs, leben häufiger von staatlicher Unterstützung oder vom Einkommen Angehöriger und sind im Alter wesentlich öfter arm als Menschen mit deutschen Wurzeln. Das ist ein Zustand, den die Landespolitik nicht länger dulden darf. Schon allein aus eigennützigen Gründen. Denn die in Niedersachsen lebenden Migranten sind im Schnitt elf Jahre jünger, zahlen also länger in die Rentenkassen ein als der vergleichsweise ältere Bevölkerungsteil ohne Migrationshintergrund. Oder sie könnten es tun. Denn nahezu die Hälfte der Männer und sogar zwei Drittel der Frauen haben kein eigenes Einkommen, sondern leben von Sozialhilfe oder werden von Familienmitgliedern versorgt. Das ist aus Sicht der nachhaltigen Politik nicht nur eine vertane Chance, sondern ein grobes Versäumnis.
Die Verantwortlichen haben zu lange nichts getan
Wer nun argumentiert, die Syrer, Iraker und Schwarzafrikaner seien ja hauptsächlich erst in den vergangenen zwei Jahren nach Deutschland gekommen und sie seien in Masse noch nicht bereit für den Arbeitsmarkt, der betrachtet nur einen kleinen Teil des Problems. Denn nur 22 Prozent der Migranten leben seit weniger als fünf Jahren in Niedersachsen. Der weitaus größere Teil nennt Deutschland seit 15 bis 30 Jahren seine Heimat. Es sind Menschen, die Anfang der Neunziger als Gastarbeiter kamen (etwa aus Italien oder der Türkei), vor Krieg flüchteten (ehemaliges Jugoslawien), den allmählichen Zusammenbruch des Ostblocks als Chance auf ein neues Leben begriffen (Polen, Russland) oder Armut entkommen wollten (Rumänien, Bulgarien).
Mit 52 Prozent stammt die Hälfte der Niedersachsen mit Migrationshintergrund aus einem europäischen Land, die andere Hälfte wird dominiert von der Türkei (elf Prozent), sowie Asien und Ozeanien (22,6 Prozent). Nur 2,5 Prozent kommen aus Afrika. Der Blick auf die Herkunft der Migranten zeigt, dass die Verantwortlichen in Niedersachsen und Deutschland seit mindestens 20 Jahren nichts wirklich Wirksames dafür getan haben, Migranten so in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, dass die Lebenschancen vergleichbar wären. Stattdessen wurde zugelassen, dass sich schleichend eine Zwei-Klassen-Gesellschaft herausbilden konnte.
46 Prozent der Männer und fast zwei Drittel der Frauen mit Migrationshintergrund sind finanziell vom Staat oder ihrer Familie abhängig.
Während Deutsche und Nichtdeutsche die Hauptschule jeweils zu gleichen Anteilen besuchen, gehen nur 22 Prozent der Migranten aufs Gymnasium. Nur die Hälfte der Menschen, die nach Niedersachsen eingewandert ist, hat die Ausbildung mit einem Abschluss beendet, lediglich zwölf Prozent davon haben einen akademischen Titel. Die andere Hälfte kann gar keinen vernünftig bezahlten Job annehmen, weil die Voraussetzungen fehlen. So ist es nicht verwunderlich, dass 46 Prozent der Männer und fast zwei Drittel der Frauen mit Migrationshintergrund finanziell vom Staat oder ihrer Familie abhängig sind.
Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Politiker die langfristigen Probleme ausgeblendet hatten. „Gastarbeiter sind ja nur zum kurzfristigen Geldverdienen im Land. Die muss man nicht integrieren“, dachten sich damals viele. Dass viele Gastarbeiter bleiben und Familien gründen würden, damit hatten sie nicht ernsthaft gerechnet. Damit hat man den Gastarbeitern aber Wege geebnet, Parallelgesellschaften zu entwickeln. Die haben im schlimmsten Fall zu Konflikten mit dem Gesetz geführt, im häufigsten Fall aber dazu, dass Bildung und Anschluss an die deutsche Gesellschaft weite Teile der in Niedersachsen lebenden Migranten nicht erreicht hat. Dazu zählen vor allem Frauen. Wie kann es sein, dass eine türkische Mutter nach 30 Jahren in Niedersachsen nur bruchstückhaft Deutsch spricht? Wie kann es sein, dass ihre Söhne ausschließlich auf die Hauptschule gehen und den Abschluss nur mit Ach und Krach schaffen, weil sie Schule nicht wichtig finden? Man kann nun dagegen einwenden, dass es das in deutschen Familien auch gibt. Aber nicht so oft wie in Migrantenfamilien.
Nach der Flüchtlingswelle vor zwei Jahren ist die kulturelle Integration von Flüchtlingen in Deutschland zum zentralen Thema geworden. Die Flüchtlinge werden massiv gefördert, damit sie Deutsch lernen und sich in der deutschen Gesellschaft zurechtfinden. Es sind die Lehren aus den verpassten Chancen der Post-Gastarbeiter-Zeit. Doch man darf die ehemaligen Flüchtlinge und Arbeitsmigranten deshalb nicht verloren geben. Im Gegenteil, man muss sich weiter bemühen, sie zu bilden und zu integrieren. Das wird schwerer als bei den Neuankömmlingen. Aber die Humanität gebietet es, so zu handeln.