Darum geht es: Kurz vor der Hessen-Wahl jagen die neuen Umfragen den Politikern der etablierten Parteien regelmäßig einen Schrecken ein. Die früher stets so starken Volksparteien, CDU/CSU auf der rechten, die SPD auf der linken Seite, verlieren scharenweise Anhänger. Das ist eine schlechte Entwicklung, die korrigiert werden muss und korrigiert werden kann, meint Klaus Wallbaum.

Die politischen Debatten leben von Zuspitzungen, glücklicherweise – aber oft wird um der Zuspitzung Willen die gründliche Analyse beiseitegeschoben. Das ist dann schade. Wir erleben das gerade in der Diskussion über das angebliche Ende einer Gewissheit, die unsere Republik fast 70 Jahre lang begleitet hat und unerschütterlich schien, nämlich die Stärke der beiden Volksparteien. Die Christdemokraten auf der rechten und die Sozialdemokraten auf der linken Seite, sie wirkten wie große verlässliche Institutionen, die sich abwechselten in der Macht in Bund und Ländern, aber doch immer fähig waren zum Konsens. Nun stürzen diese beiden Kräfte in den Umfragen und den Landtagswahlergebnissen ab, andere drängeln sich nach vorn. Die SPD scheint mittlerweile nur noch eine von vielen in etwa gleichstarken Kräften zu sein, die CDU ist auf dem Weg abwärts in die ähnliche Richtung.

Sind die Volksparteien am Ende? Unverkennbar sind sie in der Krise, das hat bestimmte Ursachen. Die SPD besteht aus zwei eigentlich widerstrebenden Gruppierungen – die linksliberalen und gut situierten Bildungsbürger, die für stärkere Minderheitenrechte in der Gesellschaft werben, und die ur-sozialdemokratischen Arbeitnehmer, die in der Globalisierung und Zuwanderung eine Gefahr für ihren eigenen Status sehen. Die CDU besteht aus mehreren Strömungen, die das linksliberale und fortschrittliche ebenso in sich tragen wie das konservative und bewahrende. Weil Angela Merkel schon sehr lange regiert und zunehmend ermattet erscheint, fehlt ihr die integrative Kraft, alle Strömungen unter ihrer Führung zu vereinen. Sie gilt als diejenige, die die CDU auf links getrimmt hat. Überzeugende Figuren neben ihr, die zum Ausgleich die konservativen Kräfte ansprechen, sind entweder nicht vorhanden oder ebenfalls durch sehr lange Zeit an der Macht geschwächt. Die Ausdünnung ihrer politischen Elite wird in der CDU immer stärker Merkel selbst angekreidet.

Bewegungen können kämpfen, angreifen, Parolen erfinden und verbreiten, und sie können einem Führer hinterherlaufen. Was sie nicht können ist: Interessen bündeln, Kompromisse schmieden und Positionen zu einem Ausgleich führen.

Die SPD hat, im großen Unterschied zu den Grünen, keine überzeugenden Politiker an der Spitze. Parteichefin Andrea Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz sind keine Sympathieträger, beide waren zu lange in der Partei selbst umstritten, als dass sie jetzt eine integrative oder gar vorwärtstreibende Kraft entfalten könnten. Beiden traut nur eine kleine Minderheit zu, die Partei wieder zu alter Stärke bringen zu können. Aber: Das liegt an den Personen, nicht an der Partei. Wie groß das Potenzial ist, auch die SPD wieder richtig populär zu machen, hat Anfang 2017 der Aufstieg von Martin Schulz bewiesen. Da er seinen eigenen Höhenflug nicht für eine kluge Verstetigung nutzte, blieb am Ende nichts davon übrig – aber das Beispiel zeigt, wie belebend eine personelle Erneuerung wirken kann. Als der Schulz-Hype stark war, hätte niemand über das Ende der Volksparteien spekuliert. Vermutlich kann auch die CDU mit einer personellen Erneuerung, sofern sie dabei ihre Geschlossenheit nicht verliert, einen neuen Aufschwung erleben.

Viele, die jetzt vom Ende der Volksparteien reden, hadern mit dem politischen System, das eben durch diese Volksparteien geprägt wurde – dazu gehört die Aufgabe, verschiedene Interessen auszugleichen, Minderheitenpositionen einzubeziehen, Kompromisse zu suchen. Damit sind Begleiterscheinungen verbunden. Die Entscheidungsprozesse dauern länger, es gibt eine Tendenz zur Mäßigung und zum Ausgleich, Profilschärfe leidet darunter und Politik wirkt zuweilen mehr wie ein Verwalten denn wie ein Gestalten. Wer soziale Netzwerke besucht und den Aufstieg populistischer Gruppen beobachtet, stellt ein Bedürfnis nach Zuspitzung, Kontroverse und Hau-Ruck-Entscheidungen fest – allesamt Erscheinungen, die einen Kontrast zur üblichen Politik von Volksparteien darstellen. Vielleicht hängt die weltweite Stärke von Populisten auch damit zusammen, dass die Volkspartei-Politiker irgendwann ihre Entscheidungen nicht mehr richtig vermitteln konnten und nur noch wie blutleere Macht-Technokraten wirkten. Das heißt: Sie haben das Kerngeschäft der Politik, die gekonnte Kommunikation, sträflich vernachlässigt. Das bedeutet: Wenn sich die Volksparteien mit personeller Erneuerung wiederbeleben wollen, sind auf jeden Fall fähige Kommunikatoren an der Spitze gefordert.

Die demokratische Gesellschaft braucht Bindekräfte und einen Grundkonsens. Wer nur auf „Bewegungen“ setzt, verbunden mit mehr oder weniger charismatischen Führern, riskiert ein Zerbrechen der früher so hochgeschätzten demokratischen Kultur. Bewegungen können kämpfen, angreifen, Parolen erfinden und verbreiten, und sie können einem Führer hinterherlaufen. Was sie nicht können ist: Interessen bündeln, Kompromisse schmieden und Positionen zu einem Ausgleich führen. Ob AfD oder „Aufstehen!“ oder irgendeine grüne Bewegung, die links außen fischen will – das ist alles ist nicht das, was unser Land braucht.

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