Das Ritual der Landespressekonferenz Niedersachsen ist wohlbekannt: Am Tag nach einer Wahl treten die Wahlkampfmanager der Parteien vor die Journalisten und bewerten die Ergebnisse aus ihrer landespolitischen Perspektive. Jetzt hatte in dieser Situation die niedersächsische SPD-Generalsekretärin Dörte Liebetruth ihren großen Auftritt. Sie wurde gefragt, was sie denn von der Forderung der Bundes-CDU halte, Kanzler Olaf Scholz solle nach dem SPD-Debakel bei der Europawahl im Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Statt das zurückzuweisen und mit vielen schwammigen Worten zu versuchen, die guten Seiten des Kanzlers zu beschreiben, entschied sich Liebetruth für einen anderen Weg. Erst verharrte sie zwei Sekunden lang in Stille, dann sagte sie: „Wir werden diese Frage in den Gremien miteinander beraten und dann geschlossen auftreten.“ Ob die SPD Niedersachsen denn noch Vertrauen in den Kanzler habe, lautete die nächste Frage. Liebetruths Antwort, wieder nach zwei Sekunden Schweigen: „Wir werden die Situation in den kommenden Tagen genau analysieren.“

Eine Rückenstärkung aus Hannover für den angeschlagenen Kanzler klingt jedenfalls anders. Schon am späten Sonntagabend hatte Ministerpräsident Stephan Weil, Chef des SPD-Landesverbandes, eine Presseerklärung verschickt: „Ich hoffe sehr, dass es der Bundespolitik vor dem Hintergrund dieses Wahlergebnisses gelingt, sehr schnell die Voraussetzungen dafür zu schaffen, Vertrauen zurückzugewinnen.“ Was er mit diesen Voraussetzungen meint, ließ Weil unerwähnt. Stilwechsel? Politikwechsel? Personalwechsel? Auch das Weil-Zitat kann man als Distanzierung vom Kanzler verstehen – zumal bekannt ist, dass der Ministerpräsident aus Hannover schon länger höchst unzufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung und speziell ihres Chefs ist. Beim Thema Heizungsgesetz hat er das schon vor Monaten direkt geäußert, damals noch mit Zielperson Robert Habeck, und die Initiativen der Ampel-Regierung zur Stützung der energieintensiven Industrie, die unter hohem Preisdruck leidet, sind aus Weils Sicht auch noch lange nicht ausreichend.
„Wir werden die Situation in den kommenden Tagen genau analysieren.“
Aber Scholz ließ bei diesem Thema die Kritik aus Niedersachsen wiederholt an sich abprallen – manchmal in einer Form, die man „ignorant“ nennen kann. Dann gibt es noch viel Ärger um Sachfragen. Die gerade von der SPD und ihrem Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in der Ampel durchgepaukten Bürgergeld-Pläne, die der SPD-internen Wiedergutmachung für die Schmach durch die Hartz-IV-Gesetze dienen, erscheinen vielen Bürgern als zu weitgehend – da es für viele Empfänger zu wenig Anreize gibt, eine Arbeit aufzunehmen. Dann sind da die Themen Zuwanderung und innere Sicherheit, in denen die Landes-Innenministerin Daniela Behrens mehr als einmal einen „harten Kurs“ gefordert hat – in auffälligem Kontrast zum Agieren der Bundesinnenministerin Nancy Faeser und der Grünen in der Bundesregierung. Zu allem kommt noch der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel aus dem niedersächsischen Goslar, der sich immer wieder zu Wort meldet. Am Montag kam im „Tagesspiegel“ seine Bewertung zum Wahlergebnis: „Die Bevölkerung ist durch mit dieser Regierung.“
„Ich habe keine Lust, über Bezeichnungen zu diskutieren.“
Wenn man jetzt wenigstens in der weiteren Führungsriege der Bundes-SPD kluge Gedanken in Richtung eines Kurswechsels oder einer politischen Neubestimmung wahrnehmen könnte. Stattdessen fällt SPD-Chef Lars Klingbeil aus dem Heidekreis, auch ein Niedersachse, mit einer pikanten Bemerkung in einer Talkshow auf: „Die Nazis sind bei dieser Wahl stärker geworden.“ Auf Nachfragen von Alice Weidel (AfD) räumt er dann ein, mit „Nazis“ meine er „die AfD“. Mit dieser heiklen Aussage ihres Parteichefs konfrontiert, meint die SPD-Landesgeneralsekretärin Liebetruth: „Ich habe keine Lust, über Bezeichnungen zu diskutieren.“ Einige in der SPD sagen hinter vorgehaltener Hand, diese wiederholt plumpe und allzu einfache Ausdrucksweise von Klingbeil disqualifiziere ihn für höhere Staatsämter. Gab es doch zuletzt immerhin einige in der Niedersachsen-SPD, die sich den 46-jährigen Klingbeil auch als Nachfolger von Stephan Weil als Ministerpräsidenten vorstellen konnten. Je länger aber die Krise des Kanzlers andauert und je hilfloser die SPD auf Bundesebene beim Versuch der Abhilfe wirkt, desto schwächer leuchtet Klingbeils Stern – obwohl er seit geraumer Zeit einer der Lieblingsgäste in politischen Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist.
Wie geht es nun weiter? Die Niedersachsen-SPD will das Landes-Ergebnis sorgsam beleuchten – und die auffälligen Schwächen herausarbeiten. In Holzminden, Wilhelmshaven, Aurich, Leer, Northeim, Helmstedt, Friesland und Salzgitter – eigentlich SPD-Hochburgen – sind die Verluste gegenüber der Europawahl 2019 am stärksten. In einigen dieser Gebiete ist nun im Umkehrschluss der Zuwachs bei der AfD besonders hoch – und auch das Resultat des Links-Ablegers „Bündnis Sahra Wagenknecht“. Ob hier die traditionelle SPD-Kernwählerschaft in radikale Parteien abwandert? Auch die anderen Parteien beleuchten ihre Resultate. Die CDU prüft, warum sie trotz der allgemein guten Zahlen gerade in Uelzen, Cloppenburg und Lüchow-Dannenberg Einbußen hat, also in ländlichen Gegenden, in denen sie eigentlich stark ist. Die größten Zugewinne sind in Rotenburg, Leer, Northeim, Stade und Oldenburg. Die niedersächsischen Grünen haben ihr Europawahl-Ergebnis von 2019 halbiert, die Verluste sind bundesweit überproportional. Die größten Verluste sind in Oldenburg, im Kreis Harburg, in der Wesermarsch und in Osnabrück-Stadt. Die Vorsitzende Greta Garlichs sieht „die Schwäche in ländlichen Gegenden und die Abwanderung zur CDU“ als größte Herausforderungen.
Und in der SPD? Hinter vorgehaltener Hand wird über verschiedene Lösungen für die aktuelle Krise der Bundespartei gesprochen. Die Pessimisten meinen, es könne zum Knall kommen und womöglich gar zum Kanzlersturz – zugunsten des bundesweiten Spitzenreiters in den Politiker-Rankings, Verteidigungsminister Boris Pistorius. Manche meinen, das könne jetzt schon bald passieren – andere sagen, man warte noch die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September ab. Dazu müsse Scholz die Vertrauensfrage stellen und verlieren – aber das könne womöglich schon in der SPD-Bundestagsfraktion geschehen. Explosiv genug sei die Stimmung jedenfalls. Die Optimisten erwidern, der Knackpunkt sei der Bundeshaushalt für 2025, und der müsse bis Anfang Juli feststehen. Da die FDP bei der Europawahl ihre Position habe halten können, verspüre Christian Lindner keine Lust mehr auf den Koalitionsbruch im Bund – er werde einlenken. Das könne gelingen, heißt es, wenn der Bundesfinanzminister in eine zusätzliche Kreditaufnahme für die Ukraine-Militärhilfe einwillige. Die Höhe könne 30 Milliarden Euro betragen, und zu rechtfertigen wäre es mit einer Notsituation. In solchen Lagen lässt die Schuldenbremse eine Ausnahme zu, und das könne hier begründet werden. Wenn die FDP über diese Brücke gehe, heißt es, könne die Ampel-Regierung wieder in ruhigere Fahrwasser kommen.
Ob das am Ende ausreichen kann, das SPD-intern gestörte Vertrauen zum Kanzler wieder herzustellen? Das hängt wohl nicht allein von Olaf Scholz ab.