Unwürdig
Darum geht es: Das Gutachten der TU Berlin bescheinigt dem umstrittenen Seminar an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Hildesheim gravierende Mängel. Ein Kommentar von Martin Brüning.
Am vergangenen Freitag starb die österreichische Autorin Ilse Aichinger. Vor zwanzig Jahren sprach sie in einem Interview mit der „Zeit“ unter anderem über ihre Kindheit im Nationalsozialismus. Dabei erinnerte sie sich an „den Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben.“ Sind diese Erinnerungen heute weniger präsent für uns, weil es immer weniger Augenzeugen von einst gibt? Und führt das dazu, dass in Bezug auf Antisemitismus immer häufiger eine fehlende Sensibilität festzustellen ist?
https://soundcloud.com/user-385595761/hawk-gutachten-bescheinigt-antisemitismus
Von fehlender Sensibilität in Hildesheim zu sprechen wäre schon fast eine Verniedlichung. An der HAWK hat man zehn (!) Jahre lang nicht nur die Augen geschlossen, dort muss man schon eine Schlafmaske plus Ohrstöpsel benutzt haben, um ja nichts von dem skandalösen Seminar „Soziale Lage der Jugendlichen in Palästina“ mitzubekommen. Dabei hat man nicht nur geflissentlich übersehen, dass das betroffene Seminar in etwa so wissenschaftlich war wie das morgendliche Schuhe zubinden, sondern dass dort auch noch mit antisemitischen Ressentiments gearbeitet und das Existenzrecht des Staates Israels in Frage gestellt wurde. In Deutschland gibt es eine besondere Verantwortung gegenüber dem jüdischen Leben und dem Staat Israel – die Verantwortlichen an der HAWK haben diese Verantwortung mit Füßen getreten.
Nun pochen die Hochschulen gerne auf ihre Autonomie, und die Politik nimmt diesen Ball gerne auf, weil damit auch eine Verlagerung von Verantwortung einhergeht. Allerdings muss man sich dieser Autonomie auch würdig erweisen. Was zehn Jahre lang an der HAWK passierte, ist dagegen unwürdig. Das schließt auch den vorläufigen Schlusspunkt dieses Skandals ein: den Vertrauensentzug für die Präsidentin durch den Senat der Hochschule. Er wurde nicht mit den jahrelangen antisemitischen Klischees in dem Seminar begründet, sondern mit der mangelhaften Kommunikation der Präsidentin. Damit stellt der Senat sich in einer Reihe mit der Ethikkommission, die bereits im Mai mit der Beurteilung gescheitert war, wie nun sogar zwei Gutachten belegen.
Lesen Sie auch:
Der Vorfall zeigt, dass die Hochschulen nicht in der Lage sind, sich selbst den eigenen Unzulänglichkeiten offen zu stellen. Die Ethikkommission war offensichtlich nicht ernsthaft bemüht, den Fall aufzuklären, obwohl das auch mit ihren Mitteln bereits im Mai möglich gewesen wäre und dem Senat ging es in erster Linie um den Ruf der Hochschule. Auch von anderen niedersächsischen Wissenschaftlern war in den vergangenen Monaten nichts zu hören. So bleibt die Frage, wie die Hochschulen in Zukunft mit solchen Fällen umgehen wollen. Braucht es unabhängige Sonderermittler im Landeshochschulrat oder vielleicht auch im Wissenschaftsministerium, die nicht dem Präsidenten der betroffenen Hochschule unterstellt sind und auch unbequeme Fragen offen stellen können?
Es sollte in den Arbeitsgruppen, die nun tagen, nicht nur um die Qualitätssicherung in Seminaren gehen. Die Hochschulen müssen auch sicherstellen, dass es künftig keine Schweigespirale mehr geben kann, durch die an der HAWK zehn Jahre lang antisemitische Inhalte unentdeckt blieben. Die Hochschulen sollten sich jetzt in der Verantwortung sehen.