Industrie warnt vor Importstopp: „Embargo wäre ein Stück weit Harakiri“
Die Stimmung in der niedersächsischen Metall- und Elektroindustrie (M+E) ist auf einem historischen Tiefstand angelangt. „Die Lage ist ernst und in Teilen unserer Industrie außerordentlich kritisch“, fasste Volker Schmidt am Freitag die Ergebnisse einer aktuellen Konjunkturumfrage zusammen. Der Hauptgeschäftsführer von Niedersachsenmetall warnt: „Die Energiepreisexplosion droht kerngesunde Unternehmen, die erstklassige Produkte liefern, zu strangulieren.“ Auch die Rohstoffpreise haben seit Kriegsbeginn in der Ukraine schwindelerregende Höhen erreicht. Laut Umfrage rechnen deswegen 68 Prozent der M+E-Betriebe mit etwas oder deutlich höheren Kosten im Einkauf.
Fast jedes dritte Unternehmen (29 Prozent) fürchtet sogar bei einer längeren Fortdauer des russischen Angriffskriegs um seine wirtschaftliche Existenz. Gut die Hälfte der Unternehmen erwartet sinkende Umsätze und Gewinne. „Der Gewinn vor Steuern ist futsch“, brachte Schmidt die Branchenperspektive auf den Punkt. Viele dringend notwendige Ausgaben für moderne und klimafreundlichere Technologien stünden deswegen auf der Kippe. „Wir müssen investieren. Aber wie soll das funktionieren, wenn sich die roten Zahlen häufen?“
Schmidt fordert Anpassungen beim „Notfallplan Gas“
In der Debatte um einen völligen Importstopp von russischer Energie vertritt Niedersachsenmetall eine klare Position. „Ein solches Embargo würde uns derzeit am meisten schaden und mit einer am Boden liegenden deutschen Wirtschaft wäre nichts gewonnen“, sagte Schmidt. In diesem Zusammenhang kritisierte er auch den „Notfallplan Gas“, nach dem bei Versorgungsknappheit zunächst dem verarbeitenden Gewerbe der Hahn zugedreht wird. „Es sind doch eher die privaten Haushalte, die mit beschränkten Wärmezeiten zurechtkommen könnten“, wandte Schmidt ein und forderte zudem mehr Differenzierung zwischen den Industriezweigen.
In der Stahl- und Glasindustrie etwa könnten Hochöfen und Glasschmelzwannen nicht einfach abgeschaltet werden. Stattdessen müsse man „den Mangel an Gas zwischen den Sektoren nach Tageszeiten oder nach Tagen klug verteilen“. Noch ist Schmidt aber optimistisch, dass es nicht zu solchen Engpässen kommen wird. „Russland würde sich ins eigene Knie schießen und uns wäre auch nicht damit gedient“, sagte Schmidt und schloss sich dem „Team Hoffnung“ an: „Möglicherweise treten die schlimmsten Auswirkungen gar nicht ein.“
„Wettbewerbsverzerrung beim Industriestrompreis“
Noch mehr als die Versorgungssicherheit mit Energie beunruhigen die Energiepreise die niedersächsischen Unternehmen. 91 Prozent der befragten Betriebe wünschen sich einen Abbau von Energiesteuern und -abgaben. „Die Energiekosten nehmen einen immer größeren Teil an den Produktionskosten ein“, sagte Schmidt und prangerte an: „Die deutsche Politik sorgt mit ihren europaweit höchsten Steuern und Abgaben auf den Industriestrompreis für eine immense Wettbewerbsverzerrung.“ Die unter anderem vom niedersächsischen Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) angeschobenen Entlastungen seien ein Schritt in die richtige Richtung. Die Bundesregierung müsse aber auch das Wahlkampfversprechen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) einlösen und den Industriestrompreis absenken. „Wir hoffen, dass da noch was kommt. Die bisherigen Beschlüsse zielen zu wenig auf die Industrie ab“, sagte Schmidt.
Metallmärkte spielen total verrückt
Wie dramatisch die Auswirkungen der Ukraine-Krise letztlich sein werden, kann Schmidt noch nicht abschätzen. „Wir haben es jetzt erst einmal in der Grundstoffindustrie mit extremen Verteuerungen zu tun, die wir am Ende der Wertschöpfungskette noch zu sehen bekommen“, sagte der Wirtschaftsexperte. Von extremen Preissteigerungen betroffen seien zum Beispiel Aluminium, Palladium, Neon oder Nickel. Der Nickelpreis war zwischenzeitlich dermaßen in die Höhe geschossen, dass der Handel an der Londoner Metallbörse sogar ausgesetzt werden musste. Inzwischen hat sich der Preis für das Schwermetall, das etwa für die Stahlproduktion und die Herstellung von Lithium-Ionen-Batterien für E-Autos benötigt wird, bei rund 50 Prozent über dem Vorkriegsniveau eingependelt. „Es sind aber nicht Mengenbewegungen, sondern es sind Erwartungen, die die Preise treiben“, erläuterte Schmidt. Das mache die Preisentwicklung umso unvorhersehbarer.
Industrie geht nach drei Jahren Krise die Puste aus
Üblicherweise dauere eine Rezession zwölf bis 18 Monate an. „Jetzt sind wir schon im 39. Monat der Krise“, sagte Schmidt. Und dabei sei die niedersächsische Industrie aus einer Position der Schwäche heraus in die Ukraine-Krise gestartet. Die Produktion in der Metall- und Elektroindustrie habe Anfang des Jahres immer noch 17 Prozent unter dem Vor-Corona-Niveau gelegen. Im Fahrzeugbau hatte es seit 2017 sogar einen Rückgang um insgesamt 54 Prozent gegeben. Die Pkw-Produktion sank von 5,65 Millionen auf 2,6 Millionen Fahrzeuge pro Jahr. „Das ist ein in der Geschichte der Automobilindustrie nie gekannter Produktionseinbruch“, kommentierte der Verbandschef.
Für die Wirtschaft im Niedersachsen sei die Entwicklung besonders fatal, weil 80 Prozent der hiesigen Autozulieferer die inländische Pkw-Produktion bestücken. „Und über 60 Prozent der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe sind mit dem Fahrzeugbau verbandelt.“ Ohne die Möglichkeit zur Kurzarbeit, da ist sich der Arbeitgeberchef sicher, wären viele dieser Jobs schon verloren gegangen. „Es war die Kurzarbeitergeld-Reglung, die einen extremen Abbau von Arbeitsplätzen verhindert hat“, sagte der Niedersachenmetall-Chef. Fast 80 Prozent der Betriebe hätten darauf zurückgegriffen. Schmidt: „Wir werden die Kurzarbeiter-Regelung auch 2022 und möglicherweise noch 2023 weiter brauchen.“
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