In unserer Gesellschaft herrscht große Verunsicherung, viele Menschen werden von Ängsten geplagt. Heiner Wilmer, seit sechs Wochen neuer Bischof des Bistums Hildesheim, äußert sich im Gespräch mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick zu den Erscheinungen und möglichen Ursachen. Er redet auch über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche.

Bischof Heiner Wilmer im Gespräch mit Klaus Wallbaum (li.) und Martin Brüning vom Politikjournal Rundblick

Rundblick: Herr Bischof, den Menschen in Deutschland geht es doch gut – oder etwa nicht?

Bischof Wilmer: In großen Teilen geht es uns sicher gut, sehr gut sogar. Wenn ich in anderen Ländern auf Deutschland angesprochen werde, heißt es immer: Ihr habt es doch gut. Das stimmt auch. Und doch stelle ich fest, dass ein Thema quasi unter der Haut liegt – und das Thema heißt Angst. Es ist kaum konkret zu fassen, ich möchte es beschreiben als Angst vor der Zukunft. Es ist die Sorge, die eigene Identität könne wegrutschen – wobei man oft nicht genau beschreiben kann, was eigentlich mit der Identität gemeint ist.

Rundblick: Identität als Deutsche?

Bischof Wilmer: „Das Deutsche“ gibt es so doch gar nicht mehr, das sind Begriffe aus dem 19. Jahrhundert. Heute haben wir es mit einem Vielvölkergemisch zu tun. Ich möchte deshalb lieber von „Heimat“ reden.  Heimat ist dort, wo ich mich zuhause fühle, wo ich die Sprache kenne, die Musik und die Gebräuche, die Gepflogenheiten. Heimat ist dort, wo ich das Gefühl habe, in der unbehausten Welt ein Dach über meiner Seele zu haben…

Es gibt das innere Zittern vor der ungewissen Zukunft.

Rundblick: Für Sie ist Heimat das Emsland, in dem sie aufgewachsen sind?

Bischof Wilmer: Ja, aber auch Hildesheim ist Heimat für mich. Seit 1. September bin ich hier neuer Bischof, und ich fühle mich hier sehr heimisch, sehr getragen. Ich bin gut angekommen in meinem Amt – was sicher auch daran liegt, dass ich Niedersachsen gut kenne, hier aufgewachsen bin und hier lange gelebt habe. Aber ich war auch einige Zeit in Rom und ein Jahr in New York, und dort habe ich schon erfahren, dass man in einer Gemeinschaft nicht gleich richtig dazugehört, wenn die Vorfahren nicht dort geboren sind. Es dauert oft zwei oder drei Generationen, bis man als „Einheimischer“ akzeptiert wird. Mein Herz schlägt für die, die viel mitgemacht haben und jetzt bei uns ankommen. Das gilt etwa für die Fremden, die jetzt in die Bundesrepublik kommen und hier aufgenommen werden möchten.


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Rundblick: Wie äußert sich die von ihnen beschriebene Angst? Ist das Wut?

Bischof Wilmer: Es ist Wut – aber es ist auch das innere Zittern vor der ungewissen Zukunft. Warum geht es derzeit den Versicherungskonzernen so gut? Das hat auch mit der Angst zu tun. Die Briten sprechen von „German Angst“ und gemeint ist eine tiefsitzende, irrationale Furcht. Sie drückt sich etwa in vielen psychosomatischen Erkrankungen aus – und in Sorgen, die in den Elternhäusern auf die Kinder übertragen werden. Es gibt da einen Domino-Effekt – die Angst des einen verstärkt die des anderen.

Rundblick: Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen dafür?

Bischof Wilmer: Als ich – Jahrgang 1961 – jung war, in den sechziger und siebziger Jahren, war die Angst in der Gesellschaft definitiv nicht so ausgeprägt wie heute. Wir hatten gemeinsame Werte, gemeinsame Hoffnungen, gemeinsame Visionen. Es ging uns immer irgendwie besser als unseren Eltern und Großeltern. Diese Gewissheit ist für die heutige junge Generation nicht mehr gegeben. Meine Nichten und Neffen haben Arbeit, aber ihnen ist nicht ganz klar, ob sie mit dem, was sie bekommen, noch einen weiteren Schritt nach vorn machen können. Sie haben Stress, ihr gegenwärtiges Niveau zu halten – und müssen aufpassen, dass sie nicht wieder runterrutschen.

Rundblick: Was können wir dagegen tun?

Bischof Wilmer: Es werden ja jede Menge Selbsthilfe-Workshops angeboten. Die Quintessenz ist immer dieselbe, nämlich die Botschaft, dass es auf die innere Einstellung und das mentale Denken ankäme. Getreu dem Motto: Wenn Du gut drauf bist, dann bist Du in der Lage, Dein Leben zu organisieren und Dein Leben zu programmieren. Da ist ja durchaus etwas Wahres dran, aber zu meinen, das sei bereits alles, das ist ein Irrtum. Wir können nicht alles vom Kopf her steuern. Es gehört auch eine neue Einstellung dazu, ein anderer Weg, zur eigenen inneren Zufriedenheit zu gelangen. Friedrich Nietzsche hat mal von den „schielenden Seelen der Gesellschaft“ gesprochen – von Menschen, die ständig auf den Nachbarn blicken, sich vergleichen und sich bemitleiden. Da entwickelt sich Neid, auch wenn die Neid-Debatte selbst ein Tabu ist. Natürlich funktioniert der kapitalistische Zug in unserer Gesellschaft über den Neid, das Wecken von Begehrlichkeiten. Wir brauchen aber etwas anderes, den Weg zu mehr Nachdenklichkeit und Reflexion – die Muße und Bereitschaft, die Zusammenhänge anzuschauen, in denen ich lebe und arbeite, und das dann auszuwerten, um neu handeln zu können.

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Rundblick: Sind nicht die zehn Gebote selbst ein Anspruch, sich nach vorgegebenen Idealen auszurichten, sich also auch zu vergleichen?

Bischof Wilmer: Wenn man die Bibel richtig versteht, ist die Botschaft kein Imperativ, sondern ein Indikativ – eine Zusage, keine Ansage. Nicht „Du sollst“, sondern „Du bist“. Mit der richtigen inneren Einstellung kommt der Mensch allein zum richtigen Handeln – und auch dazu, auf Fremde, Kranke und Arbeitslose nebenan zu achten.

Rundblick: Zum Abschluss noch eine andere Frage. Die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza hat die katholische Kirche gebeten, der Staatsanwaltschaft Einblick in die internen Akten zum Missbrauch zu gewähren – damit gegen mögliche Täter auch Strafverfahren eingeleitet werden können. Was halten Sie davon?

Bischof Wilmer: Ich bin für eine offene Herangehensweise. Wir haben nichts zu verheimlichen. Ich bin dafür, dass Akten auch für Externe geöffnet werden. Anders können wir Glaubwürdigkeit und Vertrauen nicht zurückgewinnen.