TagesKolumne: Wissen, was man nicht will
Es hätte auch alles anders kommen können. Dann würden Sie den Rundblick jetzt nicht in der Hand halten oder jedenfalls nicht so, wie er heute ist. Dafür hätte Niedersachsen einen Grundschullehrer, einen Anwalt und eine Pflegefachkraft mehr. Wenn Sie jetzt denken: „Das wäre auch nicht schlecht!“, dann sagen Sie jetzt einfach nichts. Auf jeden Fall haben wir in der Redaktion festgestellt, dass viele von uns schon Praktika gemacht haben, bei denen uns sehr schnell klar war: Das werde ich nicht beruflich machen.
Von meiner Erfahrung im Krankenhaus ist mir vor allem eine riesige Überforderung von Minute eins an im Gedächtnis geblieben. Das behütet aufgewachsene katholische Mädchen, das ich war, sah zum ersten Mal einen nackten Mann. Er war schwerst pflegebedürftig und sollte nur noch wenige Tage leben. Ich sollte helfen, ihn zu waschen. Das war Minute eins. Wenn wir heute über Fachkräftemangel reden, kommt mir der Gedanke, dass der Arbeitgeber gar nicht erst versucht hat, es mir leichter zu machen oder mich als Mitarbeiterin zu gewinnen. Ob das etwas geändert hätte, weiß ich nicht. Jedenfalls ist es nichts geworden mit meiner Karriere im Gesundheitswesen.
Vor einer Weile fiel mir das wieder ein, als ich mit einer Personalerin aus einer ganz anderen Branche sprach. Schülerpraktika bedeuten einen hohen Aufwand für das Unternehmen, sagte sie – und am Ende kommt nur selten ein Arbeitsvertrag dabei heraus. Das Kultusministerium ist da optimistischer. Wie Sie heute im Rundblick lesen, soll demnächst der Erlass zur Berufsorientierung an den Schulen überarbeitet werden. Dazu hat das Ministerium einen Dialog mit allen Beteiligten gestartet. Wie mein Kollege Niklas Kleinwächter durchblicken lässt, wird dort gemunkelt, manche Abiturienten würden vor allem deswegen studieren, weil sie keine andere Idee haben. Vielleicht ist Lesen, Lernen und Labern auch das Einzige, von dem sie sicher wissen, dass sie es können – während andere Stärken in der Schule eher selten belohnt werden. Noten zeigen vor allem Defizite auf: Wie viel Prozent fehlen zu einem perfekten Ergebnis? Es wird Zeit, auf die Ressourcen von Schülerinnen und Schülern zu schauen. Sprechen wir über Softskills!
Das Kultusministerium scheint in eine ähnliche Richtung zu denken. Hier bedauert man, dass im Schuljahr keine Zeit dafür bleibt, dass externe Berater den Schülern ihre persönlichen Kompetenzen aufzeigen. Ja, aber wer sollte denn die Schülerinnen besser kennen als die pädagogischen Teams, die jeden Tag mit ihnen arbeiten? Ich könnte mir übrigens vorstellen, dass hier vielfältige Teams klar im Vorteil sind: Mit Lehrkräften, die sich vom ersten Semester an für ihren Job entschieden haben, und solchen Kolleginnen und Kollegen, die eine breite Berufserfahrung gesammelt haben, gewachsen und gescheitert sind, bevor ihr Weg sie in die Schule geführt hat. Beide könnten den Schülern etwas von ihrer Lebenserfahrung mitgeben.
Auch der Rundblick versucht heute wieder für Orientierung zu sorgen – mit diesen Themen:
· Warum für die Landkreise eine Schuldenbremse außerhalb des Möglichen ist.
· Was sich für kleine Unternehmen ändert, die als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) firmieren.
· Warum Bauernvertreter Dirk Koslowski meint, die Politik müsse nicht Verbraucher umerziehen, sondern dafür sorgen, dass er von seiner Arbeit leben kann.
Kommen Sie gut orientiert durch diesen Mittwoch. Sie wissen ja: Der erste Schritt ist, zu wissen, was Sie nicht wollen.
Ihre Anne Beelte-Altwig
Karrieren, Krisen & Kontroversen
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