Am 1. Januar hieß es im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins noch „Alles Walzer!“. In Berlin heißt es nun einen Monat später allenfalls: „Alles Wahlkampf!“ Weniger als drei Wochen vor der Bundestagswahl schwebt man nicht mehr Strauß-beschwingt daher. Nein, die Stimmung ist angespannt und ein Schmähwort hat Hochkonjunktur: Merz lässt im Deutschen Bundestag über seine Pläne zur Migrationspolitik abstimmen und nimmt dabei die Zustimmung der AfD in Kauf – Wahlkampfmanöver! SPD und Grüne weigern sich, die Union bei ihrem Antrag zu unterstützen und rufen anschließend zu Demos für die Demokratie auf – Wahlkampfmanöver!

Alles nur fürs Publikum? | Foto: SeventyFour via Getty Images

Der Wahlkampfmanöver-Walzer dreht sich im Dreiviertel-Takt durch die Republik. Die Zahl der Umdrehungen nimmt zwar zurzeit zu, aber das Lied läuft schon lange. Vor zwei Wochen warf die FDP dem Bundeskanzler vor, ein Wahlkampfmanöver auf dem Rücken der Ukraine zu machen. Vor fünf Wochen erkannte FDP-Fraktionschef Christian Dürr in den SPD-Vorschlägen zur Reform des Bürgergelds ebenfalls ein Wahlkampfmanöver. Vor acht Wochen bezeichnete Julia Klöckner (CDU) den Industriegipfel im Kanzleramt als „nutzloses Wahlkampfmanöver“. Ein paar Tage zuvor erkannte die Union ein Wahlkampfmanöver in der Ankündigung der Innenministerin, zeitnah wieder nach Afghanistan abschieben zu wollen.

Dasselbe las man übrigens schon im Juni, damals soll der Abschiebeflug ein Wahlkampfmanöver vor der Europawahl gewesen sein. Irgendwo wird in Deutschland schließlich immer gewählt. Deshalb hat auch jede politische Aktion das Potenzial, ein Wahlkampfmanöver zu sein. Janine Wissler (Linke) erkannte beispielsweise im Mai 2023 in der Tempolimit-Debatte der Grünen ein Wahlkampfmanöver im Landtagswahlkampf. Und im bayerischen Landtagswahlkampf wertete der Kultusminister von den Freien Wählern die Söder-Idee, Lehrer aus anderen Ländern abzuwerben, auch als – na klar – Wahlkampfmanöver.

Wahlkampfzeiten sind Zeiten der politischen Profilierung. Da zeigt man eben besonders plakativ, wofür man steht – und wofür ganz sicher nicht. Es ist wie Theaterschauspiel: Da muss alles etwas übertrieben sein – die Gesten, die Mimik, das Make-Up – denn sonst erkennt der geneigte Zuschauer auf den billigen Stehplätzen in der hintersten Reihe gar nicht, was da eigentlich auf der politischen Bühne gegeben wird. So zumindest ticken offensichtlich die Spitzenpolitiker und ihre Spindoktoren. Gleichzeitig wissen sie alle um die Clownerie, die ihresgleichen im Wahlkampf veranstalten. Wenn jetzt aber alle Wahlkämpfer den anderen Wahlkämpfern ständig Wahlkampfmanöver unterstellen, wirft das doch insgesamt kein gutes Licht auf die Wahlkämpfer – weder auf die einen, noch auf die anderen. Denn was beim Wähler hängen bleibt, ist das: Wer Wahlkampf macht, meint es doch sowieso nicht ernst.

Wir beim Rundblick meinen es (fast) immer ernst. Zumindest bei diesen Themen:

  • Medien I: Zwischen Hype und Realität: Wie Künstliche Intelligenz den Journalismus aufmischt
  • Medien II: Medienanstalt gibt Weg frei für ein neues Bürgerradio in der Landeshauptstadt
  • Porträt: Am Beispiel von Diether Dehm wird das Dilemma der Linken in Deutschland deutlich

Eins-Zwei-Drei, Eins-Zwei-Drei … und immer auf die Haltung achten!
Ihr Niklas Kleinwächter