Stigmatisierung bleibt das Hauptproblem für die HIV-Aufklärung
Die Zahl der Neuinfizierungen mit dem Immunschwächevirus HIV hat sich in Niedersachsen in den vergangenen zehn Jahren eingependelt. Etwa 200 Menschen im Land erfahren derzeit jährlich, dass sie den HI-Virus in sich tragen und damit die Krankheit Aids bekommen können. Das hat das Robert-Koch-Institut ermittelt. Nach Angaben des Sozialministeriums werden daher 6,3 Prozent aller Neuinfektionen in Deutschland in Niedersachsen diagnostiziert. Die Statistiken zeigen jedoch immer mehr Infizierte, denn HIV führt heutzutage durch die Behandlung mit Medikamenten nicht mehr zwangsläufig zum Ausbruch der Immunschwächekrankheit Aids und ist deshalb nicht mehr tödlich. Hatten an Aids erkrankte Menschen in den Achtzigern nur noch wenige Jahre nach dem Ausbruch ihrer Krankheit zu leben, so können sie heute genauso alt werden wie gesunde Menschen. Was sich allerdings nur wenig verändert hat, ist das Bild der Gesellschaft von HIV und die Angst von Betroffenen, offen damit umzugehen. Das bemängelt das „Pro+ Netzwerk Positiv“ in Niedersachsen. In dem Netzwerk engagieren sich HIV-Positive gegen die Stigmatisierung ihrer Krankheit. Mit finanzieller Unterstützung des Sozialministeriums und der Krankenkasse Barmer hat das Netzwerk nun eine Broschüre herausgegeben, in der elf HIV-positiv getestete Niedersachsen ihre Geschichte erzählen. Sie soll Infizierten Mut machen, sich zu der Krankheit zu bekennen, aber auch die Öffentlichkeit über falsche Vorstellungen aufklären. Das Sozialministerium fördert die HIV-Präventionsarbeit in diesem Jahr mit insgesamt 1,7 Millionen Euro.
In Niedersachsen leben zurzeit mehr als 4100 Menschen, die den HI-Virus in sich tragen. Diagnostiziert ist die Krankheit bei 3300 Menschen, die Dunkelziffer liegt bei rund 850 Menschen. Sie kommt auch dadurch zustande, dass nicht jeder Infizierte Symptome zeigt, sodass die Krankheit erst spät oder nicht erkannt wird. In den Achtzigern, als der HI-Virus entdeckt wurde, gab der Volksmund der Infektion den Beinamen „Schwulenkrankheit“. Es ist längst wissenschaftlich bewiesen, dass HIV nicht nur über Sperma, sondern auch über das Blut verbreitet wird, weshalb sich auch Kinder im Mutterleib oder Verletzte durch verunreinigte Blutkonserven infizieren können.
Dennoch sind der Studie zufolge auch heute noch hauptsächlich homosexuelle Männer infiziert. Bei 2600 Männern in Niedersachsen ist die Krankheit bestätigt, bei mehr als 600 wird sie vermutet. Mehr als 2500 sollen sich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr mit Männern infiziert haben, bei 1900 ist das bestätigt. Von den mit dem HI-Virus Infizierten sind rund 900 Frauen betroffen, bei 730 ist die Krankheit nachgewiesen worden. Die häufigsten Wege, wie das Virus in den Körper gelangt, sind ungeschützter Geschlechtsverkehr und verunreinigte Nadeln beim Drogenkonsum. Letzteres war in rund 570 Fällen die Ursache für die Infektion, durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr ohne Kondom infizierten sich rund 670 Menschen.
In der Medizin hat sich in den vergangenen 30 Jahren viel getan. So gibt es Medikamente, die den Ausbruch von Aids hemmen und sogar die Ansteckung verhindern. „Heute geht es beim Kampf gegen HIV nicht mehr darum, Leben zu erhalten, sondern das Leben mit dem Virus positiv darzustellen“, sagte Sozialministerin Cornelia Rundt gestern bei der Vorstellung der Broschüre des „Pro+ Netzwerks“. Denn noch immer trauten sich nur wenige Infizierte, offen mit der Krankheit umzugehen, weil sie mit Benachteiligung rechnen müssen. Davon berichtet Marian Künzel aus Braunschweig, der sich im Netzwerk engagiert und in der Broschüre über seine Krankheit berichtet. „Beim Arzt etwa erleben es noch viele HIV-Positive, dass sie entweder nur zum Ende der Sprechzeit oder gar keinen Termin bekommen. Und in der Physiotherapie werden sie teilweise nur mit Handschuhen massiert.“ Das zeige, dass die alten Vorstellungen über die Krankheit in der Gesellschaft immer noch verbreitet seien. „Das ist ein Problem, das nicht in Zahlen messbar ist“, fügt Mitstreiter Jean-Luc Tissot hinzu.