SPD diskutiert: Soll es künftig ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ für Arbeitnehmer geben?
Die Arbeitswelt verändert sich mit der Digitalisierung, und das bringt viele Chancen mit sich – aber auch viele mögliche Nachteile gerade für die Schwächeren. In einer Fachkonferenz hat die SPD-Landtagsfraktion jetzt erörtert, wie man auf die Veränderungen reagieren soll. „Viele Beschäftigte sind verunsichert, weil sie nicht wissen, was ihnen bevorsteht“, sagte die Fraktionsvorsitzende Johanne Modder.
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Wenn Menschen, die 55 Jahre alt sind, eine starke berufliche Veränderung abverlangt werde, reagierten viele irritiert. Umso wichtiger sei es, die Rechte und Chancen der Arbeitnehmer festzuhalten – beispielsweise mit Reformen im Betriebsverfassungsrecht. „Wir müssen dann auch darüber diskutieren, ob es ein Recht auf Unerreichbarkeit geben soll“, sagte Modder. Die Mitarbeiter sollten die Chance haben, bestimmte Zeiten auch ungestört von der Arbeit verbringen zu können.
Die Frage, wie stark solche Regeln per Gesetz festgelegt werden sollten, ist allerdings umstritten. Vertreter des Arbeitgeberlagers werben für weniger rechtliche Bindungen, die den Tarifpartnern weiterhin Gestaltungsfreiheit gäben. Aus dem Gewerkschaftslager wird hingegen betont, dass neue Fixierungen in Gesetzen unbedingt nötig seien, da es auch um die Organisation von „Gegenmacht“ gehe, wie Dorothea Ritter von der Heimvolkshochschule Springe erklärte.
FES-Forscherin: Digitalisierung bedeutet Machtverschiebung
Die Forscherin Stefanie Moser von der Friedrich-Ebert-Stiftung berichtete von Studien, wonach die Digitalisierung bis zum Jahr 2035 eine ausgewogene Bilanz am Arbeitsmarkt schaffe: Es würden in etwa so viele Jobs in Deutschland wegfallen wie neue geschaffen werden. Allerdings sei das nicht beruhigend, weil aus einer OECD-Studie hervorgehe, dass vor allem hochqualifizierte Jobs geschaffen werden (etwa bei der Steuerung und Überwachung von Maschinen) und auch solche in geringer Qualifikation. Die Tätigkeiten im mittleren Segment allerdings, die bisher eine Fachausbildung erfordern, aber keine leitenden Aufgaben beinhalten, würden vom Markt verschwinden und durch Maschinen ersetzt werden.
Die Digitalisierung bedeute zudem eine Machtverschiebung: Der neue Status der Mitarbeiter, der vielfältiger sei als bisher, erschwere deren effektive Interessenvertretung. Der Arbeitgeber habe zudem eine viel größere Datenkontrolle.
Es ist doch von Vorteil für den Mitarbeiter, wenn er die Arbeit erst um 19 statt bis 18 Uhr erledigt, weil er um 17 Uhr eine Pause gemacht und sein Kind vom Kindergarten geholt hat.
Benedikt Hüppe von den Unternehmerverbänden Niedersachsen (UVN) sieht die Sorge, dass Unternehmen Mitarbeiter drangsalieren könnten, als gering an. Immer stärker komme es darauf an, die Beschäftigten zu motivieren und eine Bindung zwischen ihnen und der Firma herzustellen. Dazu gehöre auch die Ausweitung von Telearbeit-Angeboten. Was die Bildschirmarbeit angeht, und nicht nur dort, könnten viele Aufgaben von den Beschäftigten auch zuhause erledigt werden. Die alte Arbeitszeitregelung mit vorgeschriebenen elf Stunden zwischen Feierabend und Dienstbeginn passe dann nicht mehr. „Sozialpartner sollten die Flexibilität haben, sich hier zu einigen“, meint Hüppe.
Ulrike Anders, Mitarbeiterin im Betriebsrat von VW Nutzfahrzeuge, wünscht sich stärker gesetzliche Vorgaben. Hüppe widerspricht: „Es ist doch von Vorteil für den Mitarbeiter, wenn er die Arbeit erst um 19 statt bis 18 Uhr erledigt, weil er um 17 Uhr eine Pause gemacht und sein Kind vom Kindergarten geholt hat. Dort würden gesetzliche Vorgaben nur stören.“ Ritter von der HVHS Springe meint, es seien auch Änderungen im Kartellrecht nötig: Wenn Mitarbeiter künftig als „Crowdworker“ quasi Solo-Selbstständige seien und nicht über Arbeitsverträge an die Firma gebunden sind, müsse man ihnen gleichwohl das Recht zur Organisation und zum Zusammenschluss ermöglichen – allein schon, damit sie gegenüber dem Auftraggeber stark auftreten können.
Einig sind sich Vertreter von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Wissenschaft darin, dass die Weiterbildung der Beschäftigten einen immer größeren Stellenwert bekommen wird. Wie Thomas Siewert von der IHK Lüneburg-Wolfsburg betont, müsse man über neue Formen nachdenken – etwa Qualifizierung parallel zur Arbeit und nicht mehr auf die übliche Weise, dass jemand über mehrere Tage einen Lehrgang besucht. Auch individuell zugeschnittene Fortbildungsprogramme seien sinnvoll.