SPD in Aufruhr: „Wenn sich personell nichts tut, ist es sch…egal, ob wir zustimmen oder nicht“
Die Partei ist in heller Aufregung, gerade auch in Niedersachsen. Da stehen die Goslarer fassungslos vor dem nahenden politischen Ende ihres prominentesten Genossen und Nachbarn, Noch-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Da wird in der Landtagsfraktion kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen, dass bisher kein einziger Niedersachse auf der roten Seite der inoffiziellen Kabinettsliste steht, die seit Tagen in allen politischen Zirkeln der Republik kursiert. Und dann ist da noch der SPD-Landesvorsitzende und Ministerpräsident Stephan Weil, der sich in Interviews nach Kräften bemüht, das Dramatische möglichst undramatisch darzustellen. Er sei optimistisch, gab Weil zu Protokoll, und er danke dem zurückgetretenen Parteichef Martin Schulz für die geleistete Arbeit. Seinen tiefen Respekt und sein Lob hatte er wenige Tage zuvor auch zur Person von Sigmar Gabriel geäußert. Da fragen sich manche: Versucht Weil, die inzwischen für jedermann sichtbaren tiefe Konflikte in der SPD schönzureden?
Am gestrigen Donnerstagabend haben sich im hannoverschen Steintorviertel etwa 300 niedersächsische Genossen zusammengefunden, Juso-Mitglieder vorwiegend und viele Senioren, um sich über die aktuelle Lage auszutauschen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die SPD sich beim bevorstehenden Mitgliedervotum für die Beteiligung an einer Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel aussprechen sollte. Wäre das die Rettung oder der Untergang? Kevin Kühnert ist gekommen, der Juso-Bundesvorsitzende und Anführer der Kampagne, die für ein „Nein“ wirbt. Sein Gegenpart ist Matthias Miersch, hannoverscher SPD-Unterbezirkschef und in Berlin als Bundestagsabgeordneter der Sprecher der „Parlamentarischen Linken“. Er plädiert, obwohl wahrlich kein Freund einer Kooperation mit der CDU, für die Große Koalition. Aber es geht nicht nur um diese Frage, unausgesprochen schwebt über dieser Veranstaltung die Sorge, es könne mit der SPD noch viel weiter bergab gehen in der nächsten Zeit. Die neuesten Umfragen sehen sie bundesweit schon unter 20 Prozent. Zwischen SPD und AfD wird der Abstand immer kleiner. Was nun wäre die richtige Therapie für die kränkelnde Partei?
Wenn wir nun Angst vor Neuwahlen haben, dann können wir doch gleich einpacken.
Kevin Kühnert
Kühnert und Miersch treten an diesem Abend ähnlich auf – ruhig, überlegt, nicht effekterheischend. Als erster redet der Juso-Chef, und er lobt zunächst die Streitkultur in der SPD, dem „derzeit spannendsten Debattenort in der Republik“. In den vergangenen vier Jahren Großer Koalition sei die SPD nicht mehr sichtbar geworden, sie erscheine „nur noch als Korrektivpartei, die sich am Tagesgeschäft abarbeitet“. Dann sei der ausgehandelte neue Koalitionsvertrag enttäuschend, weil es darin nur so vor Prüfaufträgen und Kommissionen wimmele. „Die meisten Ergebnisse liegen dann gar nicht mehr in dieser Wahlperiode vor, damit wird die nächste Generation belastet.“ Zum Beispiel der Klimaschutz. Kühnert beklagt das hohe Durchschnittsalter der SPD-Verhandlungskommission, in der Generalsekretär Lars Klingbeil mit 39 der Jüngste gewesen sei – und man sehe das auch am Ergebnis, etwa an der geringen Rolle, die das Thema Digitalisierung spiele. Der Juso-Vorsitzende erntet in dem überwiegend jungen Publikum kräftigen Applaus, als er in seinem ruhigen Tonfall hinzufügt: „Wenn wir nun Angst vor Neuwahlen haben, dann können wir doch gleich einpacken.“
Keine Groko-Mehrheit an diesem Abend
Der hannoversche Unterbezirkschef reagiert auf Kühnert sehr defensiv. Er sei anfangs sehr strikt gegen die Große Koalition gewesen. Dann aber, nach dem Aus von Jamaika, habe er das Modell einer Kooperation mit der Union befürwortet, also eine Art Tolerierung. „Das war aber in der Öffentlichkeit, bei der Union und auch in der SPD nicht durchsetzbar“. Deshalb habe er danach in der Großen Koalition die Chance begriffen, wenigstens einige Punkte im Sinne der SPD zu erreichen. Das betreffe beispielsweise die 1000 Menschen, die über den Familiennachzug nach Deutschland kommen dürften. „Ohne uns hätten diese Leute die Möglichkeit nie bekommen“, sagt Miersch, der im Übrigen von Neuwahlen abrät: „Die SPD ist in keiner guten Situation momentan.“ Kühnert widerspricht dieser Einschätzung: „Wieso treffen wir so schöne Beschlüsse auf Parteitagen, wenn am Ende immer nur ein sehr kleiner Teil davon umgesetzt wird?“ Ein „bleierndes, schweres Misstrauen“ erfülle derzeit die SPD-Mitglieder, und deshalb zweifele er auch an dem von Miersch erwähnten Versprechen, die SPD werde nach der Halbzeit der Wahlperiode prüfen und entscheiden, ob man die Große Koalition fortsetzen wolle. „Wer glaubt denn, dass die SPD dann sagt, jetzt aussteigen zu wollen? Niemand.“ Kühnert wirbt am Ende auch für eine personelle Erneuerung, allerdings nicht so, dass sämtliche Funktionsträger ausgetauscht werden sollten. „Wir haben allerdings ein riesiges Repräsentationsproblem in der SPD“, fügt er hinzu. Die Vielfalt der Meinungen an der SPD-Basis spiegele sich im Parteivorstand nicht wieder. Und im Programm der SPD vermisst der Juso-Chef auch viele wichtige Dinge, etwa die höhere Besteuerung der Vermögenden.
Viele Fragesteller melden sich, und vor allem Miersch muss teilweise heftige Kritik einstecken. Aufmerksam und sehr ernst verfolgen einige Strategen aus SPD-geführten Landesministerien und manche SPD-Urgesteine wie Wolfgang Jüttner die Veranstaltung. Am heftigsten sind die Wortbeiträge der Älteren. Eine Frau, nahe dem Rentenalter, beklagt sich: „Wenn sich personell nichts tut, ist es doch sch…egal, ob wir dem Koalitionsvertrag zustimmen oder nicht.“ Und ein junger Kommunalpolitiker aus Soltau meint: „In den Wahlkämpfen haben mir Leute immer gesagt: ,Wir glauben Euch nicht mehr‘. Wie sollen wir erreichen, dass die Leute uns nach all den Wortbrüchen noch die Stimme geben?“ Eine junge Frau fragt: „Wie will die SPD jünger werden, wann kommen die jungen Menschen endlich aufs Deck der Partei?“ Hätten die Teilnehmer dieses Treffens gestern Abend in Hannover das Urteil allein fällen können, so stünde fest: die Große Koalition in Berlin käme nicht zustande. (kw)