Menschen mit Behinderungen haben in Niedersachsen immer häufiger Schwierigkeiten, vom Sozialamt den adäquaten Grad ihrer Behinderung anerkannt zu bekommen. Das stellt der Sozialverband Deutschland (SoVD) fest. In der Sozialberatung des Landesverbandes hat sich die Zahl der Ratsuchenden mit diesem Anliegen seit 2023 um elf Prozent gesteigert. In einem besonders drastischen Fall konnte sich eine Frau gar nicht mehr ohne Hilfe aus dem Bett bewegen. „Doch das Sozialamt argumentierte, sie sei gar nicht gehbehindert, weil sie noch ihre Zehen bewegen kann“, berichtete der Verbandsratsvorsitzende Bernhard Sackarendt kopfschüttelnd.

Bernhard Sackarendt (l.) und Dirk Swinke vom SoVD stellen das „Schwarzbuch Sozial 2024“ vor. | Foto: Beelte-Altwig

Solche absurden Fälle aus der Beratungspraxis sammelt der SoVD jedes Jahr in seinem „Schwarzbuch“ – und jedes Jahr können die Sozialexperten eine Steigerung vermelden. 2024 unterstützen sie ihre Mitglieder in 47.600 Verfahren gegen Behörden, Kranken- und Pflegekassen, ein Plus von 8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Unsere Zahlen zeigen, dass die Menschen zunehmend Schwierigkeiten mit den Institutionen haben“, kommentierte Sackarendt vor Journalisten. Anders als andere Verbände, die mit Mitgliederschwund und demographischem Wandel zu kämpfen haben, wächst der SoVD alljährlich, die Corona-Jahre ausgenommen. Aktuell sind es 285.000 Mitglieder in Niedersachsen. „Wir haben den Eindruck, in den Ämtern wird auf Zeit gespielt“, sagt Vorstandsvorsitzender Dirk Swinke. Teilweise sieht er eine Arbeitsüberlastung in den Behörden. Erschwerend kommt hinzu: „Es sind mehrere Personen mit einem Fall befasst. Für die Bürger heißt das: Man fängt immer wieder von vorne an.“  

Die Steigerung der Lebenshaltungskosten lässt viele Menschen verzweifeln, schildert Swinke. Wie er schon im Vorjahr kritisierte, trifft es die Bewohner von Pflegeheimen mit am härtesten. „Die Dimension des Problems ist der Gesellschaft noch gar nicht klar“, meint er. Mittlerweile wird für einen Heimplatz eine Zuzahlung von monatlich 2300 Euro fällig. „Auch Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, rutschen nach wenigen Monaten in die Sozialhilfe“, sagt der Vorstandsvorsitzende. Um so schlimmer sei es, wenn das Sozialamt dann wie in einem Fall neun Monate brauche, um die Unterstützung zu bewilligen. Immer wieder habe sich die Behörde mit Nachfragen an die demente Frau gewandt, die damit völlig überfordert gewesen sei. „Neben den Behörden ist auch die Politik gefordert“, sagt Swinke. Er erneuerte seine Forderung, das Land müsse die sogenannten Investitionskosten für die Heimbewohner übernehmen. Das würde eine Erleichterung von 500 Euro pro Bewohner bringen und die Kommunen entlasten, die diese Kosten derzeit über die Sozialämter tragen müssen. Aber auch bei Senioren, die noch nicht pflegebedürftig sind, ist die Not groß. Die Zahl der Verfahren um die Grundsicherung, also die Aufstockung, wenn die Rente nicht zum Leben reicht, ist 2024 um 13 Prozent gestiegen. Auch hier müsse die Politik helfen, fordert der SoVD. Nötig sei ein Regelsatz von monatlich 750 Euro. Doch in der Politik hat das Bürgergeld derzeit kein gutes Image. Swinke gibt zu bedenken, dass eine Nullrunde beim Bürgergeld auch die Senioren in der Grundsicherung trifft. „Politische Scharmützel werden auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen.“