Eine an Depressionen erkrankte Frau, die von der Krankenkasse zur Kündigung ihres Jobs gezwungen wird, damit diese kein Krankengeld mehr zahlen muss, oder ein chronisch kranker Mann, der in der Notaufnahme abgewiesen wird: 20 Fälle wie diese hat der Landesverband Niedersachsen des Sozialverbands Deutschland (SoVD) in der zweiten Ausgabe seines Schwarzbuchs sozial zusammengetragen. Unter dem Titel „So gemein ist Niedersachsen“ listet der Verband Beispiele auf, in denen die Sozialbehörden die vom Gesetzgeber gewährten Auslegungsfreiheiten massiv zum Nachteil der Betroffenen ausgelegt haben. „Wir unterstellen dabei niemandem eine böse Absicht“, sagt der zweite Landesvorsitzende Bernhard Sackarendt, „aber wir hoffen, dass wir mit der Veröffentlichung solcher Fälle die Verantwortlichen für ein humaneres Handeln motivieren können.“ Dazu zählt aus seiner Sicht auch die Gesetzgebung. „In der Sozial- und Rechtsberatung merken wir sehr genau, an welchen Stellen die Politik Fehler gemacht hat.“ SoVD-Landesgeschäftsführer Dirk Swinke ergänzte in Hinblick auf die Sondierungsgespräche zwischen CDU und SPD, die Inklusion dürfe sich nicht nur auf die Bildung beziehen, sondern müsse die ganze Gesellschaft umfassen. „Und dazu gehört ein gerechteres Sozialsystem.“

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Denn Swinke und Sackarendt sind überzeugt, dass hinter den Einzelschicksalen in den meisten Fällen gesamtgesellschaftliche Probleme steckten. „Da ist etwa die Frau, die sich jahrelang aufopferungsvoll um Pflegekinder kümmert, diese Zeit aber nicht auf die Rente angerechnet bekommt“, sagt Sackarendt. Das sei kein Einzelfall, sondern ein Fehler im System. Ebenso, dass Eltern behinderter Kinder in manchen Landkreisen keine Erstattung für die Betreuung im Hort bekommen, in der Kita aber schon. „Das sind Beispiele, in denen die Politik dringend handeln muss“, sagt Sackarendt. Denn hier müsse der rechtliche Rahmen enger definiert werden. In anderen Fällen appelliert Sackarendt an die Sozialbehörden, mit den vom Gesetzgeber eindeutig festgelegten Ermessensspielräumen verantwortungsvoller umzugehen. „Wir stellen immer öfter fest, dass sich das Ermessen mehr an wirtschaftlichen Interessen der Sozialbehörden orientiert und damit oft nicht im Sinne der Betroffenen ausfällt“, sagt Sackarendt. Sozial- und Krankenkassen versuchten, möglichst billige Lösungen zu finden, um Geld zu sparen. Dazu komme, dass durch Entlassungen und Einsparungen der Druck auf die Mitarbeiter wachse. „Deshalb wird oft nach Schema F entschieden, anstatt auf die individuelle Situation zu reagieren, was durch die gesetzlichen Spielräume ja ermöglicht werden soll.“

Am häufigsten befassen sich die Sozial- und Rechtsberater des SoVD mit dem Pflegegeld. „Die falsche Einstufung in die Pflegegrade und zuvor noch Pflegestufen ist ein Klassiker“, sagt Swinke. Besonders seit der Umstrukturierung der Voraussetzungen für eine Pflegeversicherung steigt die Zahl der Anträge und der Widersprüche gegen falsche Einstufungen. 633 Anträge im Bereich Pflegeversicherung sind bereits beim SoVD eingegangen, der Verband rechnet mit 775 bis zum Jahresende. Im vergangenen Jahr waren 574 Anträge eingegangen. In 424 Fällen haben Menschen Widerspruch gegen das Gutachten der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung eingelegt, im Jahr zuvor waren es 379 Fälle. 354 dieser Gutachten hat der SoVD im vergangenen Jahr geprüft, mit 57 Prozent bekamen mehr als die Hälfte der Antragsteller Recht. Insgesamt ist die Zahl der Verfahren in den 60 Beratungsstellen in Niedersachsen leicht zurückgegangen. Mit 33.568 Verfahren befassten sich die Sozial- und Rechtsberater im vergangenen Jahr, im Vorjahr waren es noch 34.215 Verfahren.