Manches deutet darauf hin, dass bei dieser Europawahl noch mehr Menschen als bisher die Chance nutzen, ihre Stimmzettel zuhause auszufüllen und abzuschicken. Ist dieser Trend zur Briefwahl etwas Gutes, weil er den Wählern mehr Flexibilität erlaubt – oder ist er schlecht, weil der Akt der Wahl damit entwürdigt wird? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber.

Pro & Contra: Martin Brüning (li.) und Klaus Wallbaum

PRO: Das Wahlrecht ist in einer Demokratie etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches. Die Aushöhlung der demokratischen Formen, wie wir sie derzeit in vielen Ländern erleben, sollte uns Mahnung und Warnung zugleich sein. Daher muss der Akt der Wahl stärker herausgestellt werden, meint Klaus Wallbaum.

Als die Menschen in der DDR am 18. März 1990 das erste Mal seit Jahrzehnten in freier Wahl ihr Parlament neu bestimmen konnten, war in den vielen Wahllokalen des zweiten deutschen Staates etwas anders als sonst: Es traten dort keine Jungen Pioniere mehr auf, es gab keine Musik und keinen Fahnenschmuck, keine feingekleideten Herrschaften und kein buntes Rahmenprogramm. Kurzum: Dem Wahlakt wurde das Festliche genommen. Dies war 1990 in der DDR mehr als verständlich: Da in den vielen Jahren zuvor keine wirkliche Wahl möglich war, sondern Einheitslisten vorgelegt wurden und jeder schief angesehen wurde, der in die Wahlkabine ging und einen Namen von der Liste streichen wollte, waren die Volkskammerwahlen in der DDR eben gar keine Wahlen. Es waren Veranstaltungen, in denen das Volk Gesten der Unterwerfung vor der allmächtigen Diktatur zeigen sollten. Insofern war es nur verständlich, dass die Bürgerrechtler sich am 18. März 1990 davon abwenden wollten – und in der Nüchternheit ein Zeichen echter demokratischer Neutralität erkannten.

Heute indes ist die Ausgangslage völlig anders. Zunächst sind die Wahlen zu Kommunalvertretungen, Landtagen, Bundestag und Europaparlament eindeutig Wahlen – die Menschen können zwischen verschiedenen politischen Richtungen auswählen, die Angebote sind vielfältig. Aber die Wertschätzung gegenüber diesem Wahlakt lässt leider oft zu wünschen übrig. Die Idee der Väter und Mütter des Grundgesetzes, das heute vor 70 Jahren verkündet wurde, war die einer freien, geheimen und gleichen Wahl. Jeder Bürger sollte sich überlegen, wem er seine Unterstützung gibt – und dies anschließend unbeeinflusst dokumentieren können. Obwohl jede einzelne Stimme in der Masse kaum Gewicht hat, ist sie doch bedeutend nicht nur für den Wähler, sondern für das politische System: Der Wahlakt, also die Meinungsäußerung jedes einzelnen Wählers am Wahltag, ist der Gipfelpunkt der Volksherrschaft. Jeder Wähler ist wie ein kleiner König, der seinen Auftrag an eine Gruppe von Vertretern erteilt – an die Parlamentarier, die wiederum die Regierung beauftragen. Wie entscheidend jeder einzelne sein kann, zeigt sich dann immer wieder bei sehr knappen Wahlergebnissen.

Die Gefahr ist groß, dass sich ein Eindruck verfestigt, die Wahl sei eben nichts Besonders, sondern vergleichbar einem Behördengang, einer Antragstellung auf Verlängerung des Personalausweises beispielsweise.

Wählen ist in einer Demokratie also etwas ganz Besonderes, etwas Herausragendes. Aber einige Entwicklungen der vergangenen Jahre haben diese Haltung beschädigt. Da ist zum einen die Geringschätzung, die nicht nur Politikern gegenüber geäußert wird, sondern Vertretern des Staates im Allgemeinen – auch Polizisten, Rettungskräfte und Vollzugsbeamte erleben Anfeindungen und Respektlosigkeit. Dann wird immer wieder das Parlament verächtlich gemacht, als ferngelenkt dargestellt und herabgewürdigt, gern von populistischen Kräften. Schließlich ist auch der allzu laxe Umgang mit der Wahl selbst ein Ausdruck dafür, dass dieser eigentlich so würdevolle Akt an Glanz und Bedeutung verliert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Prozess gegen eine Gruppe von Kommunalwahlkandidaten, die bei der Stadtrats- und Kreistagswahl 2016 in Quakenbrück (Kreis Osnabrück) Briefwahlanträge verteilt, die Antragsteller beim Ankreuzen mindestens beraten und einige Dokumente sogar selbst ausgefüllt haben. Mehrere von ihnen wurden verurteilt. Das Erschreckende ist nicht, dass so etwas passieren konnte, sondern die Tatsache, dass viele der Akteure gar kein Unrechtsbewusstsein hatten. Ihnen war nicht klar, welchen Wert und welche Bedeutung die freie und geheime Wahl bei uns hat. Sie haben das Wahlgeheimnis nicht als wichtig erachtet.


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Nun darf man nicht behaupten, dass ein hoher Anteil von Briefwählern ein Beleg dafür wäre, dass die Manipulation um sich greift. Das hieße Menschen zu verurteilen, die schlicht am Wahltag keine Zeit haben und ihr Wahlrecht dennoch ausüben wollen. Für sie muss es Angebote geben, unbedingt. Bedenklich ist nur, wenn ganz viele Leute aus reiner Bequemlichkeit den Weg zum Wahllokal scheuen und sich die Stimmzettel lieber schicken lassen – obwohl sie durchaus in der Lage wären, selbst wählen zu gehen. Die Gefahr ist groß, dass sich bei ihnen ein Eindruck verfestigt, die Wahl sei eben nichts Besonders, sondern vergleichbar einem Behördengang, einer Antragstellung auf Verlängerung des Personalausweises beispielsweise. Wenn sich eine solche Stimmung ausbreitet, wäre das unwürdig für die Wahl und schlecht für unser demokratisches System. Wer soll es noch achten, wenn wir ihm nicht einmal mehr mit Ritualen Achtung entgegenbringen?

Noch einmal zurück zur DDR: So richtig es am 18. März 1990 war, den ganzen Pomp vom Wahlakt zu verbannen, so sinnvoll wäre es heute, wieder über mehr Ehrwürdigkeit nachzudenken. Das „Wählen gehen“ ist ein festlicher Anlass, fürwahr. Warum kann man es nicht stärker zu einem Event ausgestalten, überparteilich und neutral natürlich, zu einem gesellschaftlichen Ereignis höchsten Ranges?

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Contra: Ein falscher und an der Vergangenheit orientierter Demokratie-Purismus wäre kontraproduktiv. Die Partizipation an demokratischen Prozessen sollte weiter vereinfacht, anstatt künstlich komplizierter gemacht werden, meint Martin Brüning.

Erinnern Sie sich noch an den ZDF-Wunschfilm in den 80er Jahren? Die Zuschauer konnten am Sonnabendabend bis eine Stunde vor Sendebeginn unter drei Filmen einen auswählen. Die Abstimmung nannte man Televoting, und diese Technik galt damals als hochmodern. Heute gibt es diese Spannung nicht mehr, weil wir uns täglich 24 Stunden lang mit der Fernbedingung unter einer Vielzahl von TV-Möglichkeiten das passende Angebot mit Knopfdruck heraussuchen können. Das ist ein bisschen traurig, weil die Einschränkung der Möglichkeiten den Wert des konsumierten Guts gesteigert hat und auch die Spannung und Freude, wenn beim Televoting der eigene Favorit gewann, groß war. Dies ist verloren gegangen. Andererseits ist Fernsehkonsum natürlich viel bequemer geworden. Und weil er so bequem geworden ist, ist sowohl die Zahl der Nutzer als auch die der genutzten Angebote enorm hoch.

Nun kann man uns Menschen und Wählern unsere Bequemlichkeit zum Vorwurf machen. Natürlich könnten wir uns mehr bewegen, statt vor dem Fernseher zu sitzen. Wir könnten uns mehr mit den politischen Programmen befassen, bevor wir bei einer Wahl unsere Stimme abgeben. Und wir könnten im Regen zum Wahllokal laufen, statt unseren Wahlgang vorher schon per Briefwahl erledigt zu haben. All das wäre möglich. Aber wie realistisch ist, dass wir uns ändern? Während unser Leben im Alltag an vielen Stellen bequemer wird, wäre eine Abschaffung der Briefwahl der genau entgegengesetzte Weg. Eine komplizierte Stimmabgabe und das Beharren auf einem alten Ritual würde aber voraussichtlich nicht dazu führen, dass Menschen den Wert einer Wahl wiederentdecken. Stattdessen würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wahlbeteiligung sinken. Das wäre weder im Sinne der Politik, noch im Sinne des Verfassungsgerichts. Das hatte einer hohen Wahlbeteiligung eine höhere Bedeutung beigemessen als den Bedenken, die es bei einer Briefwahl naturgemäß gibt.

Während unser Leben im Alltag an vielen Stellen bequemer wird, wäre eine Abschaffung der Briefwahl der genau entgegengesetzte Weg.

Ob es an der Verdichtung von Arbeit, am Freizeitstress oder an einer größeren Bequemlichkeit liegt, dass die Zahl der Briefwähler steigt, lässt sich schwer ausmachen. Das Angebot wird jedenfalls immer stärker angenommen. Das niedersächsische Europaministerium hat aktuelle Zahlen in den zehn größten niedersächsischen Städten abgefragt. Bisher haben dort fast 169.000 Wähler ihre Briefwahlunterlagen für die Europawahl beantragt. Würden sie alle per Briefwahl ihre Stimme abgeben, wäre das im Vergleich zur Zahl der Briefwähler im Jahr 2014 eine Steigerung von über 40 Prozent. Das ist nicht zu kritisieren, sondern zunächst einmal ein gutes Zeichen. Man sollte dies nicht mit Gleichgültigkeit oder mangelndem Interesse verwechseln. Politik und Gesellschaft profitieren stärker davon, wenn sich mehr Menschen auf verschiedenen Wegen an einer Wahl beteiligen, als wenn weniger Menschen am Sonntag in die Wahlkabine gehen, weil es nur diese eine Möglichkeit gibt. Die große Mehrheit der Wähler geht auch ohne Abschaffung der Briefwahl immer noch ins Wahllokal.

Unsere Demokratie geht ins 71. Jahr, und es ist nicht ganz einfach, nach so vielen Jahrzehnten ihren Zauber am Wahltag in Erinnerung zu rufen. Das mag man bedauern, aber ein falscher und an der Vergangenheit orientierter Demokratie-Purismus wäre kontraproduktiv. Die Demokratie wird dann erfolgreich sein, wenn sie sich gesellschaftliche Entwicklungen anzupassen versteht. Dazu sollte die Partizipation an demokratischen Prozessen weiter vereinfacht, anstatt künstlich komplizierter gemacht werden. Wer einfach nur die Briefwahl abschaffen und auf einer Wahlteilnahme am Wahltag bestehen will, macht es sich genauso einfach wie diejenigen, die Neuntklässlern das Grundgesetz in gebundener Form die Hand drücken und meinen, sie hätten schon damit etwas für Grundwerte und Demokratie getan. So einfach ist es aber nicht. Der Wert der Demokratie und die Verantwortung derjenigen, die täglich von dieser Demokratie profitieren, muss immer wieder erklärt werden, damit sich die Wähler der Bedeutung bewusst sind. Wie, wo und ob sie am Ende ihre Stimme abgeben, spielt dann keine Rolle mehr. Hauptsache, sie haben aufgeklärt ihre Wahl getroffen.

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