Sicherheitsexperten mahnen: Die Polizei muss Neonazis mit neuen Mitteln besser überwachen
Aus Sicht von Sicherheitsexperten der Polizei, der Justiz und des Verfassungsschutzes reichen die rechtlichen Instrumente zur Beobachtung der rechtsextremistischen Szene in Deutschland nicht mehr aus. Mehrere Fachleute forderten gestern in einer Fachtagung der niedersächsischen CDU-Landtagsfraktion, neue Mittel wie die Online-Durchsuchung von Computern oder die Quellen-Telefonüberwachung an Handys nicht länger an zu hohe juristische und technische Hürden zu klammern.
„Es hilft nichts, wenn wir diese Wege im Gesetz vorsehen, sie müssen zugleich auch praktikabel sein“, betonte CDU-Fraktionsvize Uwe Schünemann. Er warb dafür, dem Verfassungsschutz auf Bundesebene und auch in Niedersachsen ebenfalls die Quellen-Überwachung und die Online-Durchsuchung zu ermöglichen – Bundes- und Landesgesetz sollten entsprechend angepasst werden. In Hannover werde die CDU entsprechend aktiv werden. Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe der Vorfeld-Aufklärung, er beobachtet extremistische Szenen und analysiert Strömungen, aus denen sich später womöglich kriminelle oder gar terroristische Aktivitäten entwickeln können. Die Polizei wird dann aktiv, sobald es konkrete Gefahren für die Sicherheit oder Straftaten gibt.
Kaum klassische Vereinsstrukturen
Das sicherheitspolitische Fachgespräch der CDU-Landtagsfraktion kreiste um die Frage, inwieweit sich der Rechtsextremismus verändert hat – und ob die Behörden die Lage gut im Blick haben. Dabei räumte Sinan Selen, Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, praktische Versäumnisse ein. Seine Behörde habe „nicht immer ein Gesamtbild“, weil die Akteure die Neigung entwickelt hätten, zwischen üblichen sozialen Netzwerken und dem illegalen Darknet mit verschlüsselten Zugängen zu wechseln. Dort würden sie dann mit ihren verbalen Angriffen und Ankündigungen konkreter werden.
Es gebe kaum klassische Vereinsstrukturen, sondern nur bevorzugte Räume für rechtsextreme Kommunikation – etwa Kampfsportgruppen, Reichsbürger oder rechtsextreme Musik-Festivals. Eine Radikalisierung der rechten Szene sei feststellbar. Bernhard Witthaut, Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz, ist erschrocken über Berichte von Grundschullehrern über Viertklässler, die bereits rechtsradikalen Jargon pflegten. Häufig würden Pädagogen dagegen nicht einschreiten. Diese „Verrohung“ der Szene erfordere, dass der Verfassungsschutz seine Arbeit komplett ändern und die sozialen Medien viel stärker in den Blick nehmen müsse – vor allem nachts, wenn die Nutzer besonders aktiv sind. Dass die Bundesbehörden die Hass-Kriminalität vor allem regeln und nicht vorrangig die Landesämter, sei der richtige und angemessene Weg.
Wenn nach der Einführung des 5-G-Standards die Provider nicht verpflichtet werden, ihre Daten der Polizei zu melden, wird die Telefonüberwachung in der bisherigen Form vollständig wegfallen.
Nach den Worten des CDU-Innenpolitikers Sebastian Lechner gehen die Behörden von 1240 Rechtsextremisten in Niedersachsen aus, die Hälfte sei gewaltbereit. Drei Personen gelten laut LKA-Abteilungsleiter Siegfried Maetje zur Gruppe der „Gefährder“, 12 zu den „relevanten Personen“. Das sei der harte Kern. Der Politologe Florian Hartleb hat die Profile rechtsradikaler Attentäter studiert und dabei Gemeinsamkeiten festgestellt: Sie würden alle viel Zeit im Internet verbringen, auch bei Computerspielen. Sie planten (wie Anders Breivik in Norwegen) ihre Taten meist schon Jahre vorher, seien Einzelgänger, aber hätten durchaus Kontakt zu politischen Gruppen. Sie hätten meist persönliche Probleme, die mit ursächlich sind für die Radikalisierung.
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Die neuen Mittel zum Abhören von Handys und zur Überwachung von Computern stehen zwar schon im Polizeigesetz (was die Gefahrenabwehr angeht) und in der Strafprozessordnung (für die Strafverfolgung), aber nach den Worten des Celler Generalstaatsanwalts Frank Lüttig sind sie dort kaum anwendbar. Die rechtliche Hürde – der Richtervorbehalt – sei sehr hoch, auch die Wege bis zu technischen Neuerungen seien in den Behörden holprig: „Der Bundestrojaner, der einst eingeführt wurde, war ja schon nach zwei Monaten wieder veraltet.“ Wenn nach der Einführung des 5-G-Standards die Provider nicht verpflichtet würden, ihre Daten der Polizei zu melden, „dann wird die Telefonüberwachung in der bisherigen Form vollständig wegfallen“, meint Lüttig: „Dann können wir den Laden hier dichtmachen.“ Die Gesetzgeber müssten überdies „über den Schatten der Datenschützer springen“.
Der Verfassungsschützer Selen erläuterte, Deutschland müsse den Hinweisen befreundeter ausländischer Nachrichtendienste dankbar sein. Diese hätten mehr Mittel bei der Überwachung – und sie hätten wertvolle Tipps gegeben. Nur deshalb seien die sieben seit 2016 geplanten Anschläge in der Bundesrepublik vereitelt worden. Selen nennt noch ein Defizit: Es gebe mehrere Fälle, in denen spätere Attentäter schon polizeibekannt waren, aber lange unauffällig geblieben waren. Ihre Namen hätten deshalb aus dem Computersystem nach einigen Jahren wieder gelöscht werden müssen. „Wir sollten die Speicherfristen in den Gesetzen verlängern“, rät der Verfassungsschützer.