Die Mitteilung des Landrats von Hameln-Pyrmont, Tjark Bartels (SPD), aus gesundheitlichen Gründen um seine Entlassung zu bitten, hat eine bewegende politische Diskussion in Niedersachsen ausgelöst. Politiker von SPD und CDU erklärten auf Anfrage des Politikjournals Rundblick, das politische Geschäft sei zu hart und unerbittlich geworden.

„Wir müssen dringend über unsere Umgangsformen reden“, sagte Ulrich Watermann (SPD). Der 50-jährige Sozialdemokrat Bartels wird seit Monaten in den sozialen Medien, aber auch in Leser-Reaktionen auf den Internetseiten von Zeitungen massiv angegriffen. Dies geschieht vor allem im Zusammenhang mit schweren Versäumnissen im Jugendamt seiner Landkreisbehörde, das nach krassen Fehlentscheidungen ein Pflegekind beim Haupttäter in Lügde unterbrachte und dies auch nach kritischen Hinweisen nicht revidiert hatte.

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Bartels, ein leidenschaftlicher Vollblut-Politiker, litt zusehends unter den Attacken, die ihn persönlich zur Zielscheibe hatten. In einer Videobotschaft am vergangenen Freitag erklärte er, die schweren Symptome von Burnout anfangs ignoriert zu haben. Jetzt hätten ihm seine Ärzte aber geraten, sich aus dem politischen Geschäft zurückzuziehen. Ob er dem folge, sei noch unklar. Auf jeden Fall werde er zunächst das Innenministerium bitten, ihn amtsärztlich untersuchen und gegebenenfalls krankschreiben zu lassen. Nach einem möglichen Ausscheiden aus dem Dienst müsste der Kreistag den Neuwahltermin bestimmen, dieser wäre dann voraussichtlich Mitte des kommenden Jahres.

Weggefährten wussten von seiner Erkrankung

Politische Weggefährten wussten schon seit mehreren Wochen von Bartels‘ Erkrankung, für die Öffentlichkeit kommt das überraschend. In der zehnminütigen Videobotschaft erklärte der Landrat, auf dem Campingplatz in Lügde (Nordrhein-Westfalen) seien seit 20 Jahren mit dem organisierten Kindesmissbrauch „schwere Verbrechen“ begangen worden, der Kreis Hameln sei in den vergangenen drei Jahren daran auch beteiligt gewesen, als das Jugendamt festlegte, ein Kind bei dem mutmaßlichen Haupttäter unterzubringen – „eine Fehlentscheidung“, wie Bartels sagt.


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Er habe gehofft, der Fall würde eine breite Debatte über eine Änderung der Umstände und Vorschriften bei der Jugendhilfe entfachen, etwa der Bezug zum Entscheidungsrecht der Eltern. „Es braucht mehr als Empörung und Verstecken“, sagte Bartels und spielte damit auf das Bundesrecht an. Die mangelnden politischen Initiativen in diese Richtung hätten auch mit einer Debattenkultur zu tun, die den Mut der Akteure ersticke. Er sei es zwar gewohnt, beschimpft zu werden, doch im Fall Lügde „wurden auch meine Grenzen deutlich überschritten“. Leider seien Hassbotschaften schon „zum Teil der Medienwelt geworden“, auch reguläre Medien würden sich darauf stützen – „dabei ist das ein Zerrbild“. Ein Problem sei, dass manche Entscheidungsträger erst die Reaktionen auf Facebook und Twitter prüfen wollten, bevor sie sich zum Handeln durchringen. Oft geschehe so gar nichts.

Sein Politikstil brachte ihm stets auch viel Kritik ein

Der Jurist Bartels wurde 2006 Bürgermeister der Wedemark. Sieben Jahre später wurde er zum Nachfolger des ermordeten Hamelner Landrats Rüdiger Butte gewählt. Bartels ist für seine hemdsärmelige, entscheidungsfreudige und konfliktbereite Art bekannt. So setzte er die Erdverkabelung für das Stromnetz in seinem Kreis durch. Beim NS-Erinnerungsort auf dem Bückeberg gelang ihm mit einer Mischung von Vorpreschen und Diplomatie, die Weichen für ein gutes Konzept zu stellen.


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Sein Politikstil brachte ihm stets auch viel Kritik ein, doch das Maß an Beschimpfungen und Unterstellungen im Fall Lügde war wohl außergewöhnlich heftig – zumal der Landrat selbst sich vor Mitarbeiter stellen musste, die ihm anfangs ihre Fehler verschwiegen und gar versuchten, diese zu vertuschen. Der SPD-Politiker Watermann, ein enger Weggefährte von Bartels, kritisiert den derzeitigen Trend, für jedes Problem bestimmte Politiker persönlich verantwortlich sprechen zu wollen. Dies sei hier nicht Bartels selbst zuzuschreiben, weil er selbst die Fälle gar nicht bearbeitet und die Fehler nicht begangen habe.

„Gerade bei Kindesmissbrauch ist es so, dass viele Menschen unbedingt einen Verantwortlichen suchen – so entlasten sie ihre eigene Mitverantwortung, wenn sie in ihrem eigenen Umfeld zu Misshandlungen geschwiegen haben.“ Viele wollten sich nicht eingestehen, selbst bisher nicht entschlossen genug gegen Kindesmissbrauch aktiv geworden zu sein. Watermann zeigt sich betroffen auch von der politischen Kommunikation, von der Skandalisierung jedes Vorgangs und von den Aufgeregtheiten, die ein nüchternes Urteil oft nicht mehr möglich machten und politisches Handeln blockierten. „Die Gefahr besteht, dass wir künftig nur noch die Übervorsichtigen oder die Abenteurer als Kandidaten für herausgehobene Ämter bekommen“, meint Watermann.

Landespolitik zeigt viel Verständnis

Landtagsvizepräsident Bernd Busemann (CDU) sieht das im Rundblick-Gespräch ähnlich: „Einen Shitstorm im Netz hält auf Dauer niemand aus, auch kein Schwergewicht wie Bartels. Wenn wir hier nichts ändern, finden wir bald keinen mehr, der Verantwortung übernehmen will. Deshalb sind die Umgangsformen staats- und demokratiegefährdend – ebenso wie die verbreitete Haltung, die eigene Position für absolut und kompromisslos zu setzen.“

Einen Shitstorm im Netz hält auf Dauer niemand aus, auch kein Schwergewicht wie Bartels.

Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sagte zum Rückzug von Bartels: „Ich würde mir wünschen, dass unsere ganze Gesellschaft noch achtsamer wird.“ Er hoffe, dass sein Parteifreund „irgendwann auf die politische Bühne zurückkehrt“.

Auch Uwe Schünemann (CDU), der 2013 die Landratswahl gegen Bartels verloren hatte, ist über die Ereignisse bestürzt, wie er dem Rundblick sagte: „Hinter einer harten Schale verbirgt sich oft ein weicher Kern. In der Auseinandersetzung wird oft vergessen, dass auch ein Politiker ein verletzbarer Mensch sein kann. Darüber sollten wir aus Anlass des Rücktritts von Bartels nachdenken und Konsequenzen ziehen. Ich wünsche ihm schnellstmögliche Genesung.“

Wirbel hat eine Erklärung der FDP-Politikerin Sylvia Bruns zu Bartels‘ Rücktritt ausgelöst. Sie erklärte, der Landrat komme „einem erzwungenen Rücktritt zuvor“. Darauf entgegnete die SPD-Fraktionsvorsitzende Johanne Modder, Bruns‘ Äußerung über einen an Burnout leidenden Menschen sei „beschämend und respektlos“. Sie erwarte eine Entschuldigung.