Probleme im „Fachwerk-Fünfeck“: Wie kann Northeims Innenstadt zielgerichtet schrumpfen?
Simon Hartmann, der Bürgermeister der Kreisstadt Northeim, sieht seine Kommune mittlerweile auf einem guten Weg. „Wir haben alle irgendwann erkannt, dass wir ein Mittelzentrum sind“, sagt er – und meint damit eigentlich: kein Oberzentrum. Das klingt sehr technisch, heißt aber übersetzt folgendes: Die stolze Stadt Northeim, einst ausgestattet mit einer sehr langen und großen Fußgängerzone, spürt den Schrumpfungsprozess, der schon vor der Corona-Krise eingesetzt hatte und sich seitdem mit Wucht fortsetzt: Der Einzelhandel nimmt rapide ab, die Filialisten, die in vielen Städten ihre Ableger eingemietet hatten, ziehen sich allmählich zurück. Leerstände sind oft die Folge, und wo Geschäfte leer stehen, wird die Umgebung rasch unangenehm. Das Image beginnt sich zu wandeln, Neuorientierungen sind nötig. Oder, drastischer ausgedrückt: Die wirkliche Bereitschaft zur Veränderung beginnt erst, wenn die Bürger den Bedeutungswandel des eigenen Ortes erkannt haben. Vielleicht auch den Bedeutungsverlust.
Probleme im Fachwerk-Fünfeck sind überall dieselben
In einer Veranstaltung des Ministeriums für Bundes-, Europa- und Regionalangelegenheiten wurden diese Probleme vor einiger Zeit mit Blick auf das „Fachwerk-Fünfeck“ in Südniedersachsen besprochen. Dieses Fünfeck ist ein Netzwerk der traditionsreichen Fachwerkstädte Einbeck, Northeim, Osterode, Duderstadt und Hannoversch Münden. Sie alle haben ähnliche Probleme, es sind Städte mit einer stolzen, jahrhundertealten Vergangenheit und mittelalterlichen Stadtkernen, die zu größeren Teilen erhalten geblieben sind. In den Innenstädten gibt es viele Baudenkmale, teilweise Einzeldenkmale und teilweise Flächendenkmale. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Bausubstanz kaum zerstört. Aber all diese Städte leiden auch seit vielen Jahren unter dem starken Rückgang der Einwohnerzahl in der Region, unter einem Wegzug gerade der jungen Leute – und darunter, dass mit dem schwindenden Einzelhandel auch die Wirtschaftskraft und damit auch die Innovationskraft abnimmt. Was also tun? Simon Hartmann in Northeim und sein Team haben zunächst erkannt, dass „die Sehnsucht nach den siebziger Jahren“ unrealistisch ist. Die Innenstadt werde wohl nie wieder vom Einzelhandel so belebt sein wie seinerzeit, man müsse sich auf weniger Geschäfte einstellen, wohl auch auf weniger Leben in der Stadt. Nun gehe es zunächst darum, die Fußgängerzone einzugrenzen und teilweise wieder für den Autoverkehr zu öffnen. „Das lief erstaunlich problemlos“, sagt Hartmann. Er achte darauf, dass vor allem die Fahrzeuge der sozialen Dienste für ältere Menschen dann leichter wieder in die Innenstadt kommen könnten.
Denn eines ist auch klar: Wo der Einzelhandel sich zurückzieht, denkt man zunächst an neue Wohnangebote. Die Vorzüge einer mittelgroßen Stadt gegenüber dem Dorf sind dabei, dass man seniorengerechter planen kann. Der Supermarkt um die Ecke, der Arzt in Rufweite, der Pflegedienst immer parat – das sind Angebote, wie sie in kleinen Dörfern schwieriger herzustellen sind als in mittelgroßen Städten. Für die Organisation von Treffpunkten mit Gleichaltrigen oder mit anderen Generationen gilt das ebenfalls. Es gibt also eine Vision für den Wandel der Innenstadt, selbst dort, wo die Bausubstanz noch von der alten großen Blütezeit kündet. Aber wie einfach ist das umzusetzen?
Wie Juliane Hofmann von der Organisation des „Fachwerk-Fünfeck“ berichtet, sind die Gespräche mit den Eigentümern der Fachwerkhäuser in den Innenstädten nicht immer einfach – vor allem dann, wenn die jeweilige Stadt die Besitzer der Immobilien zu Investitionen oder Umbauten ermuntern möchte. Häufig seien die Eigentümer gar nicht erreichbar oder ansprechbar, viele lebten weit entfernt, manche Erben hätten gar kein Interesse an finanziellem Engagement oder seien untereinander zerstritten. Eine intensive Kontaktaufnahme lohne sich aber, meint Hofmann. Das könne verknüpft werden mit gezielter Unterstützung für die Anwendung bestimmter Förderprogramme. Dass diese in den vergangenen Jahren immer komplizierter geworden sind und selbst von Kommunalverwaltungen längst nicht mehr einfach bearbeitet werden könnten, erschwere allerdings die Situation. „Die Städte leiden auch unter Fachkräftemangel, auch in den Bauverwaltungen. Jedes Förderprogramm sollte die Antragsfristen nicht zu kurz setzen, schließlich müssen die Konzepte dann noch durch die politischen Gremien der Stadt, die tagen auch nicht wöchentlich“, sagt Hartmann.
Karin Beckmann vom Ministerium für Regionalentwicklung sieht es ähnlich: „Viele Kommunen fühlen sich überfordert, wenn ein neues Programm aufgelegt wird. Sie sind nicht imstande, alle Bedingungen und Vorgaben rasch aufzunehmen und umzusetzen.“ Und wenn es denn trotz dieser Schwierigkeiten klappt mit der Umgestaltung, sind auch viele neue Ideen gefragt. Ricarda Pätzold vom Deutschen Institut für Urbanistik spricht von der Umrüstung nicht benötigter Krankenhäuser, Feuerwachen, Parkhäuser oder Ladenzeilen zu Wohnungen. Tatsächlich sind aber die Nutzungsbedingungen in jedem Fall anders, oft sind die Wohnverhältnisse in alten Fachwerkhäusern sehr eng bemessen und zu bescheiden, der Beharrungswille vieler Bewohner gegen Veränderungen ist hingegen sehr groß. Oft erscheint eine Umgestaltung nur dann attraktiv, wenn man mehrere nebeneinander liegende Gebäude in ein Ensemble einbeziehen kann. Doch das macht den organisatorischen Aufwand und den Abstimmungsbedarf dann noch größer.
In Northeim wurden die Bebauungspläne für die Innenstadt, die noch auf die großen Dimensionen der 70er Jahre ausgerichtet waren, inzwischen angepasst. „Nicht als Druckmittel“, betont Bürgermeister Hartmann, aber als Ausdruck eines Umdenkens und eines Wunsches zur „Entfesselung“, also zu mehr Möglichkeiten bei Umgestaltungen. Die Stadt peilt auch an, zum Wohnort für Göttinger Studenten zu werden, die in zwölf Minuten mit der Bahn in der Universität sein könnten. Insgesamt elf Bebauungspläne gab es für die City von Northeim, berichtet Sarah Pauly von der Stadtverwaltung, alle seien mindestens 30 Jahre alt gewesen, bevor sie vor wenigen Wochen angepasst, also gelockert wurden. Die neuen Vorgaben lassen jetzt mehr Möglichkeiten zu. Dass dies in der Stadt relativ problemlos durchsetzbar war, ist für die Verantwortlichen im Rathaus ebenfalls ein gutes Zeichen: Die Bürgerschaft, folgert Bürgermeister Hartmann daraus, ist offenbar bereit für eine Veränderung.
Dieser Artikel erschien am 16.11.2022 in der Ausgabe #203.
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