Die Grünen im Landtag, mit zwölf Abgeordneten größte Oppositionsfraktion, müssen sich neu aufstellen. In wenigen Wochen wird Anja Piel, die bisherige Chefin, ihren Abschied nehmen – und in den Vorstand des DGB einrücken. Soll eine der engagierten Frauen die Nachfolge antreten? Was bedeutet das für die politische Ausrichtung der Partei? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

Müssen die Grünen weiter in die Mitte … oder doch nach links? – Foto: DQM; Grüne Fraktion Nds

Pro: Alle Frauen, die für den Fraktionsvorsitz in Betracht kämen, zählen zum linken Flügel der Partei. Dieser dominante Flügel führt aber in die falsche Richtung. Daher wäre die beste Wahl für den Vorsitz die eines Realo-Politikers – und hier käme nur noch eine Person in Betracht: der frühere Umweltminister Stefan Wenzel, meint Klaus Wallbaum.

Der bevorstehende Abgang von Anja Piel an der Spitze der Grünen-Landtagsfraktion wird von vielen in der Landespolitik bedauert. Denn mit Piel geht nicht nur eine erfahrene Spitzenkraft, sondern auch eine, die gefühlt immer über den Lagern stand und sagte: „Nun mal ruhig, wir werden uns schon einig.“ Denkt man sich Piel einen Moment lang weg, dann fällt der Blick auf eine Fraktion, die sich in den vergangenen Jahren extrem nach links geschoben hat. Bis 2013 noch waren die Grünen im Landtag aufgeteilt in zwei fast gleichstarke Gruppen – die „Linken“ hier, die ihre Hauptaufgabe in der Oppositionsbewegung sahen und in der Abgrenzung zur CDU, die „Realos“ dort, die sich als mehr bürgerlich denn als radikal empfanden und nach vielen Seiten offen waren.


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Heute hat sich das Bild total gewandelt: Die „Linken“ bei den Grünen haben längst die Herrschaft übernommen. Das war schon in der vergangenen Wahlperiode der Fall, fiel nur nicht so auf, weil die Grünen als Junior-Partner der Regierung in der täglichen Regierungsarbeit gefangen waren und ganz heikle Konflikte mit der SPD einfach um Jahre vertagt wurden. Außerdem stand vorn ja immer Piel, die mit ihrer stets mütterlichen Verständigungsbereitschaft die politischen Widersprüche überdeckte. So war es möglich, dass der Ruf nach einem „linken“ Polizeirecht trotz Versprechen im Koalitionsvertrag bis zum Ende der rot-grünen Regierung nicht umgesetzt werden musste.

Gibt es noch Konflikte zwischen Realos und Fundis?

Und jetzt? Die Grünen sind wieder in der Opposition, und sie stehen früher oder später vor der Frage, mit wem sie nach der nächsten Landtagswahl eine Regierung zu bilden bereit wären. Der bürgerliche, fast liberale Pragmatismus, den Robert Habeck und Annalena Baerbock verkörpern und der die Grünen bundesweit derzeit so populär macht, geht dem niedersächsischen Spitzenpersonal völlig ab. Hier wird nicht die Tradition des klugen (manchmal altklugen) Strategen Joschka Fischer gepflegt, sondern die des scharfzüngigen Polarisierers Jürgen Trittin. Hier ist Schwarz-Grün ein Schimpfwort, etwas moralisch Unvorstellbares. In anderen Ländern ist es längst gelebte Normalität.

Hier ist Schwarz-Grün ein Schimpfwort, etwas moralisch Unvorstellbares. In anderen Ländern ist es längst gelebte Normalität.

Wenn man führende niedersächsische Grüne fragt, wie es mit den Konflikten zwischen „Linken“ und „Realos“ steht, hört man unisono eine Auskunft: Solche Konflikte gebe es doch gar nicht mehr. Das stimmt sogar, aber die Gründe dafür sind, dass die „Realos“ in Niedersachsens Landesverband längst an den äußersten Rand gedrängt wurden, marginalisiert sind und in jeder Kampfsituation hoffnungslos unterlegen wären. Daher wagen sie erst gar keinen Strategiestreit. Bis 2018 waren die beiden Landesvorsitzenden noch ausgewogen – eine Linke und ein Realo. Dann wurde der Realo gestürzt und durch einen Linken ersetzt.

Immerhin halten sich die Landesvorsitzenden landespolitisch zurück und lassen der Fraktion den Vortritt. In der Fraktionsspitze sind Helge Limburg (Hannover), Miriam Staudte (Lüneburg) und Christian Meyer (Holzminden) die Piel-Stellvertreter – allesamt zählen sie zu den Linken. Limburg hat von ihnen noch am ehesten den Ruf als Pragmatiker, doch er ist seit einiger Zeit auffallend defensiv. Bei Meyer und Staudte ist eines so gut wie unvorstellbar: Dass sie offen wären für SPD oder CDU als mögliche Koalitionspartner. Sie dürften sich ausschließlich auf die SPD als denkbaren Partner beschränken, vielleicht ergänzt um die FDP, vermutlich noch lieber ergänzt um die Linkspartei, falls diese irgendwann wieder in den Landtag einziehen sollte. Diese Einstellung darf man getrost auch den beiden anderen Frauen unterstellen, die neben Staudte als mögliche Piel-Nachfolgerinnen im Gespräch sind – Julia Hamburg (Hannover) und Imke Byl (Gifhorn).

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Hamburg und Byl entstammen der traditionell starken Grünen Jugend in Niedersachsen, einer Organisation, die gemeinsam mit Linksextremisten gegen das neue Polizeigesetz demonstriert hat – und dabei vor äußerster verbaler Radikalität nicht zurückschreckte. Das passt so gar nicht zum bürgerlichen Image der Grünen, das mit den Namen Winfried Kretschmann, Robert Habeck oder Cem Özdemir verknüpft ist und das eine Partei zeigt, die fest in der Mitte der Gesellschaft verankert ist – in gebührendem Abstand zu extremen Kräften auf der rechten wie auf der linken Seite.

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In Niedersachsen sind die Grünen klar links von der – hierzulande etwas konservativeren – SPD. Das grenzt aber zugleich ihre Optionen nach einer Landtagswahl ein. Was müssten sie tun, damit sie – wie ihre Kollegen in anderen Ländern – ebenso für Wähler der Mitte attraktiv werden und notfalls auch ein Partner der CDU werden können? Da Limburg wohl nicht in Betracht kommt, müsste Stefan Wenzel, ehemaliger Umweltminister, neuer Fraktionschef werden. Der 57-Jährige ist der letzte noch verbliebene Realo-Politiker in der Fraktion. Traurig ist, dass er wohl keine Chance haben dürfte. Nicht, weil er zu weit nach rechts gerückt wäre. Nein, die übrigen Funktionsträger der Grünen in Niedersachsen stehen einfach zu weit links.

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Contra: Wie bleibt man glaubwürdig, wenn man auf einmal in kurzer Zeit auf die doppelte Umfragegröße wächst? Für die Grünen-Fraktion ist die richtige Strategie aus dieser Entwicklung nicht der Gang in die Mitte. Sie muss ihre Stärken stärken, und dafür hat sie zufälligerweise auch genau die richtige Personalie, meint Martin Brüning.

Die Grünen schweben immer noch auf der Wolke sieben. Innerhalb von zwei Jahren haben sich ihre Umfragewerte nahezu verdoppelt. Auch die Zahl der Mitglieder wächst und wächst. Für die Partei ist das Segen und Fluch zugleich. Ihre Bedeutung wächst mit den steigenden demoskopischen Werten, ohne dass sich diese Bedeutung bisher in den Parlamenten in der Breite manifestiert. Die Wahlen im Osten verliefen trotz Baerbock und Habeck einigermaßen enttäuschend, und in Hamburg zieht sogar die auf Bundesebene waidwunde SPD den Grünen kurz vor der Bürgerschaftswahl in den Umfragen davon. Doch auch wenn es Katharina Fegebank in der Hansestadt am Ende vielleicht nicht gelingen sollte, Amtsinhaber Peter Tschentscher zu verdrängen, so sind die Grünen doch jetzt ein wichtiger Faktor, mit dem man rechnen muss – erst recht, wenn es um die Koalitionsbildung geht.

Die niedersächsischen Grünen sind auf die Situation mehr schlecht als recht vorbereitet. Sie haben sich schon vor der letzten Landtagswahl kräftig verzockt, als sie durch ihre Regelung, jeden dritten Listenplatz einem neuen Bewerber zur Verfügung zu stellen, hervorragende Köpfe der Fraktion auf die aussichtsloseren Plätze schickten. Abgeordnete wie Thomas Schremmer, Maaret Westphely und Gerald Heere fielen ihren schlechten Listenplätzen zum Opfer. Hinzu kam noch ein für die Grünen recht enttäuschendes Wahlergebnis von 8,7 Prozent, obwohl Umfragen vor der Wahl innerparteilich noch Hoffnung auf zehn Prozent (vielleicht auch plus x) gemacht hatten.

Durch diese Entwicklung steht die aktuelle Fraktion mit ihren zwölf Abgeordneten in krassem Gegensatz zu den Umfrageergebnissen. Während die Grünen darin in Niedersachsen zwischen 17 und 24 Prozent gehandelt werden und der Höhenflug auf der Bundesebene auch in Niedersachsen angekommen ist, herrscht in der Fraktion eher Mittelmaß. Die neuen Abgeordneten mühen sich redlich, aber das Label „Premium-Opposition“, das der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende David McAllister der Grünen-Fraktion einst anheftete, dürfte die aktuelle Mannschaft wohl nicht mehr erhalten. Die einzig gute Nachricht in diesen Tagen lautet, dass durch den voraussichtlichen Weggang von Anja Piel mit Volker Bajus aus Osnabrück einer der damaligen Leistungsträger in den Landtag nachrückt.

Für eine Oppositionsfraktion sind die Grünen zu ruhig

Piels Entscheidung, sich beim DGB-Bundesvorstand in Berlin zur Wahl zu stellen, ist für die Fraktion schmerzhaft, weil Piel die große Fähigkeit hat, integrierend zu wirken. Sie hat eine Fraktion, die nicht leicht zu führen ist, auch während der rot-grünen Landesregierung bis zum Abgang von Elke Twesten diszipliniert zusammengehalten und auch nach der Wahlniederlage dafür gesorgt, dass ehemalige Minister wie Christian Meyer und Stefan Wenzel sich der Fraktion untergeordnet und wieder als einfache Abgeordnete mitgearbeitet haben. Es dringt unter Piels Führung wenig nach draußen, was auf Unruhe schließen lässt. Es ist ruhig, für eine Oppositionsfraktion allerdings ein wenig zu ruhig.

Die Wahl von Byl wäre nicht nur ein Signal an all die „Fridays for Future“-Gruppen im Land, sie würde gerade in diesen Gruppen auch auf das Glaubwürdigkeitskonto der Grünen einzahlen.

Nun haben die Grünen die Chance, aus der Not eine Tugend zu machen. Auch wenn die Unterstützung für die Öko-Partei weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht, was auch beim Wahlsieg von Belit Onay in Hannover zu beobachten war, so ist die Klimabewegung doch eine der wichtigen Ursachen für den Umfragenhype. Um diese Stärke zu stärken, hätte die Landtagsfraktion die passende Abgeordnete: 26 Jahre alt, Bachelor in Umweltwissenschaften, ehemalige Vorsitzende der Grünen Jugend in Niedersachsen und im Landtag Sprecherin für Klimaschutz. Mit Imke Byl würde die Fraktion nicht nur einen Überraschungscoup landen und dem Landtagsestablishment – männlich, mittelalt, häufig mittelmäßig – eine frische und junge Antwort entgegensetzen. Hinzu kommt, dass sich Byl als Neueinsteigerin in dieser Legislaturperiode zur überzeugendsten Abgeordneten der Grünen-Fraktion gemausert hat.

https://twitter.com/ImkeByl/status/1201830481752461313

Die Wahl von Byl wäre nicht nur ein Signal an all die „Fridays for Future“-Gruppen im Land, sie würde gerade in diesen Gruppen auch auf das Glaubwürdigkeitskonto der Grünen einzahlen. Sicher gäbe es in der Fraktion auch andere Möglichkeiten, den Fraktionsvorsitz zu besetzen. Julia Hamburg oder Helge Limburg wären dafür geeignete Kandidaten. Diese Entscheidungen wären vertretbar, aber sicher nicht mutig. Wer, wenn nicht die Grünen, sollten den Mut haben, der jungen Generation auch an der Fraktionsspitze eine Stimme zu verleihen? Die hohen Umfragewerte sind nicht in Stein gemeißelt. Wenn der Gang in die Mitte den einstigen Idealismus ablöst, werden sich gerade junge Menschen nach und nach wieder abwenden.

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