Landtagspräsidentin Gabriele Andretta (SPD) hat im Politikjournal Rundblick einen Antisemitismus-Beauftragten für Niedersachsen gefordert. „Der Hass auf Juden und auf Israel ist verbreiteter, als viele meinen“, sagte Andretta. Die Landesregierung stehe dem Vorschlag im Grundsatz aufgeschlossen gegenüber, hieß es gestern von Ministerpräsident Stephan Weil. Die Vor- und die Nachteile sollten jetzt in Ruhe abgewogen und mit den jüdischen Gemeinden, aber auch mit anderen gesellschaftlichen Gruppen diskutiert werden. Braucht Niedersachsen einen Antisemitismus-Beauftragten? Ein Pro & Contra von Klaus Wallbaum und Martin Brüning

Martin Brüning (li.) und Klaus Wallbaum – Foto: DqM

PRO: Ein Landesbeauftragter, der sich mit dem Problem des Antisemitismus auseinandersetzt und Strategien dagegen entwirft, ist von großem Vorteil. Er sollte beim Landtag angesiedelt werden und als eine wesentliche Aufgabe die Förderung des Dialogs der Religionen erkennen, meint Klaus Wallbaum.

Das Beauftragtenwesen in Niedersachsen hat nicht den besten Ruf, und das liegt an Merkwürdigkeiten bei vergangenen Entscheidungen. 2013 erkannte die damals frischgewählte rot-grüne Landesregierung, dass die Regionen in Niedersachsen sich auseinanderentwickeln – Reichtum im Nordwesten, Siechtum im Süden und Osten. Zur Lösung wurden vier gutbezahlte Landesbeauftragte für Regionalentwicklung berufen. Dass sich seitdem viel an den Zuständen geändert hätte, lässt sich nicht sagen. Immerhin: Es kümmern sich jetzt mehr Leute um die Probleme, was ja durchaus als Vorteil angesehen werden kann.


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Ist es jetzt ähnlich, wenn wir tatsächlich einen „Antisemitismus-Beauftragten“ bekommen sollten? Der Unterschied ist, dass es bei der Regionalförderung um konkrete Investitionen, um eine effektivere Verwaltungsorganisation und gezielte Ansiedlung von Unternehmen geht. Da können Beauftragte als Ansprechpartner Kontakte anbahnen und vermitteln, das geschieht ja mit unterschiedlichen Erfolgen. Eine effektive Politik mit gezielter staatlicher Unterstützung kann mit solchen Beauftragten jedoch nicht ersetzt werden. Ein „Antisemitismus-Beauftragter“ hingegen wirkt in die Breite und Tiefe, er weiß vermutlich gar nicht, wo er zuerst ansetzen soll und kann. Gute Kommunikation ist fast schon seine ganze Arbeit. Umso wichtiger wäre es, hier eine überzeugende Persönlichkeit zu finden. Das muss jemand sein, der das Vertrauen derer genießt, die Antisemitismus spüren und erleiden. Und jemand, der Warnzeichen spürt und aufklärend wirken kann – ohne belehrend oder anmaßend zu erscheinen. Im Idealfall muss das jemand sein, der die Dialog der verschiedenen Religionen in Niedersachsen fördert und ebnet – also einer oder eine, der oder die den Respekt auch außerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft genießt. Rhetorisches Talent gehört unbedingt dazu, die Bereitschaft zuzuhören und Brücken zu bauen – und eine klare Abgrenzung gegenüber all jenen, die Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung gutheißen.

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Aber, um das klar zu sagen: der Titel „Antisemitismus-Beauftragter“ soll und muss im Mittelpunkt stehen. Es geht eben nicht in erster Linie um den Dialog der Kulturen, sondern um den Umgang mit einem Phänomen, das es in Deutschland seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden gibt – und das jetzt nach Ansicht vieler Experten an Schärfe zugenommen hat: die Judenfeindlichkeit. Das erscheint als Hass auf eine Gruppe von Menschen, die vermeintlich wohlhabender, privilegierter gestellt ist als man selbst. In rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen grassiert ein Neid auf die Zuwanderer und Asylbewerber, denen man eine ernsthafte politische Verfolgung als Grund für ihr Hiersein abspricht. Die Ausdrucksformen dieser Haltung erinnern stark an den Judenhass in früheren Zeiten. Daneben gibt es den religiösen Extremismus, der sich vor allem bei islamistischen Gruppen ausdrückt – bei Zugereisten aus Syrien und dem Irak ebenso wie bei Muslimen, die schon länger in Deutschland leben und hier nicht integriert sind. Und es gibt den Antisemitismus, der begleitet wird von einer Verschwörungstheorie und auch einer Russland-Freundlichkeit. Da wird die jüdische Lobby in New York zitiert, die aktuelle Politik der USA und des Staates Israel verleumdet, eine Nähe zu Palästinensern und Hamas hergestellt und aus diesem Gemisch eine politische Positionsbestimmung abgeleitet, die auf den ersten Blick gar nicht erkennbar ist als extrem links oder extrem rechts. Es gibt sogar Gruppen, die eine „Querfront“ anpeilen, eine Fusion von Links- und Rechtsextremisten in Ablehnung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Deutschland. Ihr bevorzugtes Mittel ist dabei ein traditionelles – der Judenhass. Man appelliert an tiefsitzende Stimmungen und Haltungen, die oft über Generationen in deutschen Familien vererbt wurden.


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Ein Antisemitismus-Beauftragter kann diese gefährlichen Tendenzen nicht abstellen. Aber er kann, wenn er gut ist, bei den aufgeklärten Menschen ein Bewusstsein für solche Mechanismen schaffen. Und er kann mit pauschalen Urteilen aufräumen, die Antisemitismus immer nur in der extrem rechten oder nur in der pro-palästinensischen Ecke vermuten. Die Wahrheit ist eben, dass die Abneigung gegenüber Juden vor keiner politischen Gruppierung haltmacht. Man findet überall solche Erscheinungsformen, sogar in der buchstäblichen „Mitte“ der Gesellschaft, wo man höchst aufgeklärte Bürger erwartet hätte. Deshalb sollte sich der Landtag auf die Suche machen nach jemanden, der hier aktiv werden kann – gern auch ehrenamtlich, wenn es ihm um die Sache geht. Ein Pensionär, der voller Energie steckt, wäre gar nicht so schlecht, denn ein gehöriges Maß an Lebenserfahrung gehört für den Job schon dazu.

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CONTRA: Die Staatsräson braucht keinen Beauftragten. Der Staat ist dafür verantwortlich, dass er die eigenen Grundsätze auch durchsetzt. Wenn es um den Kampf gegen Antisemitismus geht, dann sind wir in Deutschland alle beauftragt, meint Martin Brüning.

Einen Vorteil hat die Forderung nach einem Beauftragten gegen Antisemitismus. Das Thema erfährt damit auch in Niedersachsen die Aufmerksamkeit, die es schon seit längerer Zeit haben müsste. Die zunehmenden Übergriffe auf und die Hetze gegen Juden in Deutschland haben teilweise schon zu politischen Konsequenzen geführt. In Rheinland-Pfalz gibt es bereits einen Antisemitismus-Beauftragten, im Bund und in Baden-Württemberg wird das neue Amt gerade auf den Weg gebracht. „So wie das Existenzrecht Israels zur Staatsräson der Bundesrepublik gehört, so gehört für uns in Baden-Württemberg der Schutz der Jüdinnen und Juden und des jüdischen Lebens zur Staatsräson“, sagte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor wenigen Wochen im Stuttgarter Landtag. Allerdings: Die Staatsräson braucht überhaupt keinen Beauftragten. Der Staat ist aber dafür verantwortlich, dass er die eigenen Grundsätze auch durchsetzt – sonst ist der Begriff Staatsräson nur ein leeres Wort für Sonntagsreden, ohne jegliche Bedeutung im Alltag.

Wir brauchen keinen Beauftragten. Wenn es um Antisemitismus geht, sind wir in Deutschland alle beauftragt.

Der Alltag aber hat sich für Juden in Deutschland in den vergangenen Jahren verändert. An den Schulen gibt es immer wieder Mobbing-Vorfälle gegen jüdische Kinder, in bestimmten Stadtbezirken wird Juden empfohlen, ohne Kippa auf die Straße zu gehen, und an „Informations“-Ständen in deutschen Innenstädten wird aus einer angeblichen Israel-Kritik schnell antisemitische Hetze. Die einen sehen vor allem den Rechtsextremismus als Problem, weil Gewalt gegen Juden laut Kriminalstatistik zu 95 Prozent von Rechtsextremen ausgeht. Wer politisch links steht, wähnt sich ohnehin generell unschuldig, obwohl es auch gerade im linken Spektrum teilweise einen ausgeprägten Antisemitismus gibt. Einer Studie der TU-Berlin zufolge soll der Campus-Antisemitismus unter linken Studenten stark zugenommen haben. Andere wie der Historiker Michael Wolffsohn sagen, Gewalt gegen Juden gehe ausschließlich von Muslimen aus. Autoren wie der israelische Politologe David Ranan wollen im muslimischen Antisemitismus dagegen „keine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden“ erkennen. Hintergrund der Einstellung von Muslimen sei vor allem der ungelöste Territorialkonflikt im Nahen Osten. Das Problem: Für sein aktuelles Buch hat Ranan 70 in Deutschland lebende Muslime, vor allem Studenten und Akademiker, gefragt. Welche Aussagekraft das für eine Berliner Gesamtschule hat, bleibt doch eher fraglich.

Es spielt allerdings überhaupt keine Rolle, ob Antisemitismus von rechts, von links oder aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Fakt ist: über 70 Jahre nach der Shoa müssen sich Juden im Land der Täter wieder Sorgen machen. Das ist unerträglich. Gegen die Angst vor Übergriffen im täglichen Leben hilft kein Beauftragter. Ein solches Amt ist politische weiße Salbe. Vielmehr ist der Kampf gegen den Antisemitismus in der Breite zu führen, und er betrifft das gesamte Landeskabinett und die gesamte Gesellschaft. Lehrer dürfen sich nicht hilflos fühlen, wenn Diskussionen über den Konflikt zwischen Israel und Palästina außer Kontrolle geraten, und sie sollten selbst eine klare Haltung deutlich machen. Das liegt an den Lehrern selbst, aber es braucht auch eine Hilfestellung des Kultusministeriums und der Landesschulbehörde. Das Wissenschaftsministerium hat dafür Sorge zu tragen, dass Antisemitismus an niedersächsischen Hochschulen keinen Platz hat. Der Verweis auf die Hochschulautonomie war während der Hildesheimer HAWK-Affäre im Jahr 2016 schon eine Demonstration der Haltungslosigkeit. Und auch jeder Handwerksmeister muss im Betrieb deutlich machen, dass verbale Angriffe wie „Du Jude“ unter Auszubildenden inakzeptabel sind – egal aus welchem Kulturkreis sie kommen welcher Religion sie angehören.

Wir brauchen keinen Beauftragten. Wenn es um Antisemitismus geht, sind wir in Deutschland alle beauftragt.

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